Friedrichshain-Kreuzberg
Friedrichshain-Kreuzberg kündigt einem Träger für Mädchenzentren fristlos. Der Vorwurf: Die Leitung verbreite Antisemitismus. Der Verein will rechtliche Schritte einleiten, auch aus der Bezirkspolitik kommt Kritik. Nun gibt es eine Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses. Von Jenny Barke
Das Jugendamt Friedrichshain-Kreuzberg unter Leitung des CDU-Bezirksstadtrats Max Kindler hat dem Trägerverein "Frieda-Frauen*zentrum" fristlos und außerordentlich gekündigt. In einem offiziellen Kündigungsschreiben teilt der Bezirk mit, dass der Verein seine Vertragsziele der Demokratiebildung und des Abbaus von menschenverachtenden Einstellungen nicht nachgekommen sei. Konkret geht es um Vorwürfe, dass die Leitung des Vereins sich wiederholt antisemitisch und antizionistisch geäußert haben sowie bei pro-palästinensischen Veranstaltungen teilgenommen haben soll.
Durch die Kündigung müssen zwei Jugendzentren für Mädchen und junge Frauen "mit sofortiger Wirkung" schließen, das "Alia-Zentrum für Mädchen" nahe des Schlesischen Tors in Kreuzberg und der "Phantalisa-Raum für Mädchen* und junge Frauen" nahe des Frankfurter Tors in Friedrichshain. Das Schreiben ist bereits am Mittwoch, 17. April bei dem Träger "Frieda" eingegangen. Nach rbb-Informationen haben beide Einrichtungen bereits seit vergangener Woche geschlossen. Am Freitagabend soll es eine Sondersitzung des Jugendhilfeausschusses Friedrichshain-Kreuzberg ausschließlich zu dem Thema geben.
Auf rbb-Anfrage teilte das Bezirksamt mit, dass das Jugendamt das Vertrauen in den Trägerverein "Frieda" verloren habe und benannte drei hauptsächliche Vorwürfe, die sich auf das politische Verhalten der beiden Geschäftsführerinnen, Manal Sode und Shokoofeh Montazeri beziehen, jedoch nichts mit der Arbeit in den Jugendzentren direkt zu tun haben.
Als ersten Punkt nannte der Bezirk die Teilnahme von Sode und Montazeri an einer pro-palästinensischen Demonstration in Berlin-Mitte wenige Tage nach dem Angriff der Hamas auf Israel Anfang Oktober. Dabei sollen Bilder entstanden sein, die Sode, Montazeri und weitere "Frieda"-Beschäftigte dabei zeigen, wie sie sich "vermummt" in "vorderster Linie gegenüber den Polizisten", die die Mahnwache begleiteten, zeigten. Das Jugendamt habe befürchtet, dass die Personen eine gezielte konfrontative Auseinandersetzung mit den Polizeikräften gesucht hätten.
Als zweiter Punkt wurde auf die privaten Social-Media-Kanäle der Leitung von "Frieda" verwiesen: Auf ihren Accounts seien diverse pro-palästinensische Äußerungen und zugleich antisemitische sowie antizionistische Aussagen gegenüber Israel vertreten worden. Der Bezirk gab an, dass er Strafanzeige bei der Staatsanwaltschaft Berlin "wegen des Verdachts auf Volksverhetzung und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer Organisationen" gestellt hat. Bisher hat die Staatsanwaltschaft die Anzeige nicht bestätigt. Der Account ist inzwischen nicht mehr öffentlich einsehbar.
Als dritten Grund für die Kündigung nannte das Bezirksamt die Teilnahme der Leitung am öffentlichen, sogenannten "Palästina-Kongress" Mitte April in Berlin. Auf der Webseite des Kongresses wurde auch Montazeri als Rednerin angekündigt als "antikoloniale Marxistin", die "seit Jahren politisch aktiv im Rahmen von queer-feministischen, anti-imperialistischen und antikolonialen Bewegungen sowie der Palästina Solidarität" ist.
Die Berliner Polizei löste den Kongress bereits kurz nach Beginn auf und begründete das Verbot mit dem Risiko, dass Redner dort Antisemitismus verbreiten, zu Gewalt aufrufen oder den Holocaust leugnen könnten. Das Bezirksamt begründete in seinem Schreiben weiter: "Vorab wurde ausführlich über diesen Kongress berichtet, weshalb Frau Montazeri sich in vollkommenen Bewusstsein darüber mit den genannten Persönlichkeiten in eine Reihe gestellt hat."
Aus allen drei Gründen habe das Jugendamt geschlossen, dass das Neutralitätsgebot "durch die pädagogischen Fachkräfte in ihrer Arbeit vor Ort mit den besuchenden Mädchen* und jungen Frauen" nicht mehr gegeben sei. Es sei befürchtet worden, dass unter diesen Umständen der Verein nicht in der Lage sei, "junge Menschen vor Judenhass oder anderen menschenverachtenden Äußerungen zu schützen und sie zu demokratischem Handeln zu befähigen".
Der Trägerverein "Frieda" zeigte sich gegenüber dem rbb am Mittwoch über die Anschuldigungen und die fristlose Kündigung eigenen Worten zufolge schockiert. Für eine genauere Stellungnahme zu den Vorwürfen war die Geschäftsführung auf mehrfache Anfrage von rbb|24 nicht erreichbar.
In einem öffentlichen Statement [frieda-frauenzentrum.de] kritisierten die Betroffenen, dass private Instagram-Accounts von Beschäftigten ausgespäht worden seien. Dass "Mitarbeitende auf ihren privaten Social-Media-Profilen überwacht werden und die Inanspruchnahme von Grundrechten außerhalb ihrer Dienstzeit, z.B. die Teilnahme an Demonstrationen, geprofiled und offenbar kriminalisiert wird, empfinden wir als besorgniserregend", heißt es.
Der Verein habe die "begründete Befürchtung", Opfer von Repressionen und Einschüchterungen geworden zu sein", von dem auch andere betroffen seien, die sich mit der palästinensischen Bevölkerung solidarisierten. Die Leitung sieht die Demokratie durch das Vorgehen in Gefahr und fordert, die demokratischen Werte zu schützen.
Zudem kritisierte die Geschäftsführung von "Frieda" die abrupte Schließung ohne Vorankündigung. Es habe eine über Jahre währende Zusammenarbeit mit dem Jugendamt bestanden, die von einem Tag auf den anderen beendet worden sei.
Eine Kritik, die auch der SPD-Fraktionsvorsitzende und Jugendhilfeausschuss-Sprecher Frank Vollmert seinen Worten zufolge teilt. CDU-Bezirksstadtrat Kindler habe eigenmächtig gehandelt und den Jugendhilfeausschuss darüber nicht informiert. "Das Vorgehen von Herrn Kindler führt letztendlich nur zu unnötigem Vertrauensverlust bei anderen Trägern."
Dennoch teilt Vollmert auch die fachpolitische Kritik des Jugendamts am Träger "Frieda". Der Konflikt mit dem Verein bestehe schon seit Jahren, bereits im Oktober vergangenen Jahres habe es eine Sonderausschusssitzung zum Thema gegeben. Auf Nachfrage von rbb|24 ging Vollmert nicht näher auf die Gründe dafür ein. "Es war damals der Wunsch des Jugendamts, den Vertrag auslaufen zu lassen, beziehungsweise regelhaft zu kündigen", so Vollmert. Weil sich die Probleme zwischen Jugendamt und Träger nicht klären ließen, empfahl der Jugendhilfeausschuss im Januar eine Mediation, "um das massiv gestörte Vertrauensverhältnis doch möglicherweise noch zu heilen."
Mit dem Vorgehen des Bezirksstadtrats Kindler sei dieser Weg nun versperrt. Vollmert ärgert daran vor allem, dass die mediale Aufmerksamkeit sich jetzt auf den Stadtrat und die Leitung des Trägers fokussiere, wie er sagt. "Was haben wir jetzt? Eine hoch geheizte politische Debatte gegen einen angeblich konservativen CDU-Stadtrat gegen eine progressive Einrichtung". Es werde nun zusätzlich eine größere Diskussion geben, ob die Rechte des Jugendhilfeausschusses übergangen worden sind.
Auch bei der Linken in der Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg regt sich Widerstand. Deren Fraktionsvorsitzender René Jokisch teilte dem rbb mit, dass er nicht mit dem Vorgehen des CDU-Stadtrats Kindler einverstanden sei. Bevor ein Stadtrat eine Kündigung ausspreche, müsse sich der Jugendhilfeausschuss mit dem Thema befassen, bestätigte er. "Dabei hätte der Stadtrat die nebulösen Vorwürfe konkret benennen und begründen müssen, inwiefern es Auswirkungen auf die Jugendarbeit des Träger-Vereins gibt, und die Beschuldigten hätten sich dazu verhalten und verteidigen können", sagte Jokisch.
Die Linke werde nun eine ausführliche Begründung von Kindler einfordern. "Und wir werden mit Menschen aus dem Verein sprechen, um ihre Sichtweise zu erfahren: Welche Rolle spielt der gesellschaftlich präsente Nahost-Konflikt in ihrer Jugendarbeit und wie gehen sie damit um?"
In der jetzigen Debatte gehe es nicht mehr um die Mädchen und jungen Frauen selbst, ergänzte SPD-Fraktionsvorsitzender Vollmert. Die stünden jetzt auf der Straße. Wenn ein Träger seine Jugendzentren schließen müsse, führe das bei den Kindern und Jugendlichen immer zu Verunsicherung und wühle sie unnötig auf, so der Jugendhilfeausschuss-Sprecher. "Ihr Anlauf- und Bezugspunkt wird ihnen weggenommen." Vollmert wäre, so sagt er, ein geordnetes Verfahren, ein lückenloser Übergang hin zu einem neuen Träger wesentlich lieber gewesen.
Der Migrationsrat Berlin, in dem auch der Träger "Frieda" Mitglied ist, fordert, dass die beiden Einrichtungen weiterbetrieben werden. "Ich halte solche gedanklichen Schnellschüsse von einzelnen Personen ohne die Konsultation von zuständigen Menschen und Gremien nicht für akzeptables Verwaltungshandeln", sagte Koray Yilmaz-Güney, der Co-Geschäftsführer des Migrationsrats, am Donnerstag dem rbb.
Der Träger "Frieda" selbst beklagte, dass hauptsächlich die Besucher*innen der Zentren Leidtragende seien: "Die abrupten Kündigungen unserer Mädchen*einrichtungen in Friedrichshain und Kreuzberg treffen die einzigen queer-feministischen Projekte im Bezirk, die insbesondere für migrantischen Mädchen* und jungen Frauen* ein intersektionales Angebot, Unterstützung und Schutz bieten." Der Verein kündigte an, gegen die Schließung seiner queer-feministischen Projekte nun rechtlich vorgehen zu wollen. Das Bezirksamt betont, man arbeite mit Hochdruck daran, alternative Angebote zu entwickeln.
Sendung: rbb24 Inforadio, 25.04.2024, 16 Uhr
Beitrag von Jenny Barke
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