Jugendangebote in Marzahn-Hellersdorf
Marzahn-Hellersdorf zählt zu den am stärksten sozial belasteten Bezirken Berlins. Gleichzeitig leben hier besonders viele Familien mit Kindern. Welche Bedeutung Jugendangebote haben - und warum ein Jugendclub mehr ist als ein Ort zum Abhängen. Von Margarethe Neubauer
"So, und jetzt das zweite Bein. Na, das ging schon mal besser", sagt Kristina Schwenk und lacht. Auf der Turnmatte vor ihr versuchen zwei Viertklässler in Liegestützposition die Spannung zu halten, während ein Mitschüler auf ihre Rücken klettert. Das Ziel: eine menschliche Pyramide bauen. Die Jungen wackeln mit den Armen und kichern – aber mit etwas Hilfe klappt es.
"Wenn die Kinder merken: 'Hey, man hat was hingekriegt' - da geht mein Herz auf", sagt Schwenk. Mit ihren zwei Kollegen vom Zirkus Cabuwazi betreut die 20-jährige Bundesfreiwillige die Nachmittags-AG an der Beatrix-Potter-Grundschule in Hellersdorf. Einmal in der Woche können die Schülerinnen und Schüler das Angebot kostenlos wahrnehmen. Dabei geht es aber nicht nur um Kraft und Körperspannung.
"Wenn man eine Akrobatikpyramide steht, dann muss man sich gegenseitig festhalten. Man muss Berührungsängste abbauen und Verantwortung füreinander übernehmen", sagt Fabian Gröger. Er leitet den Zirkus-Standort im Bezirk seit 16 Jahren. Dorthin kommen täglich rund 150 Kinder und Jugendliche, um Zaubern, Clownerie und Akrobatik zu lernen.
Oder das Zirkusangebot kommt zu ihnen, wie an der Beatrix-Potter-Grundschule. "Denn dort im Quartiersgebiet gibt es sozial besondere Bedarfe", sagt Fabian Gröger. "Wir bieten dort Tanz, Theater und zirkuspädagogische Angebote, so dass die Kinder Sprach- und Bewegungsförderung bekommen."
Bei der letzten Erhebung zur Einschulungsuntersuchung schnitten Kinder aus Marzahn-Hellersdorf in den Bereichen Sprachkompetenz und Hand-Auge-Koordination berlinweit am schlechtesten ab. Letztere war bei fast jedem dritten Kind "besonders ungünstig". 15 Prozent der sogenannten herkunftsdeutschen Kinder hatten Sprachförderung nötig. Bei den Kindern nichtdeutscher Herkunft waren es 55 Prozent. Auch das ist ein negativer Spitzenwert unter den Bezirken. Im Juni 2024 soll es erstmals seit der Pandemie neue Ergebnisse geben.
Der Kinder- und Jugendzirkus will ein ergänzendes Angebot zur Schule sein. "Es ist ja zurzeit so, dass die Klassen sehr, sehr bunt gemischt sind", sagt Fabian Gröger. "Die Lehrerinnen können sich gar nicht um alle Kinder individuell kümmern, weil es teilweise auch Sprachbarrieren gibt."
Drei Kilometer weiter, im selben Ortsteil, liegt zwischen Plattenbauten und Park der Jugendclub U5. Auch hier sollen die Kinder und Jugendlichen ein Angebot über die Schule hinaus bekommen.
Zwei Neuntklässlerinnen sitzen am Tisch und formen Herzen aus weißer Knetmasse. "Modellieren ist gerade der Hit", sagt die angehende Sozialarbeiterin Sara Strotmann, die die Mädchen anleitet. "Etwas mit den Händen machen, den Kopf abschalten, wenn’s in der Schule oder zu Hause blöd war. Und am Ende sind sie stolz auf das Ergebnis."
In den Jugendclub kommen Kinder und junge Menschen im Alter zwischen sieben und 27 Jahren. Sie spielen Tischtennis, Dart, Fußball, kochen und basteln zusammen. "Viele Kinder sind einsam. Wir haben viele Alleinerziehende im Bezirk", sagt Sara Strotmann. Fast jedes dritte Kind wächst mit nur einem Elternteil auf. "Die Eltern müssen Geld verdienen, sind gestresst. Hierher kommen die Kinder zum Beispiel auch zum gemeinsamen Kochen. Zuhause schmieren sie sich vielleicht eine Nutella-Stulle oder essen gar nicht. Hier können sie eigenverantwortlich gucken, was sie kochen wollen."
Neben der Freizeitgestaltung hilft das Team des Jugendclubs auch bei Hausaufgaben und Bewerbungen. Und: Es gibt Berufsberatungen vor Ort. Auch für Jugendliche, die die Schule abgebrochen haben. Sara Strotmann sieht darin einen großen Vorteil. "Zeige mir mal einen 14- oder 16-jährigen Schulabbrecher, der ins Jugendamt geht. Der hat Angst, verurteilt zu werden. Mir wäre da in dem Alter auch der Arsch auf Grundeis gegangen." Marzahn-Hellersdorf hat mit 10,1 Prozent berlinweit die zweithöchste Quote an Schulabgängerinnen und Schulabgängern ohne Abschluss.
Zwingen will das Team die Kinder und Jugendlichen aber zu nichts. "Wir wollen, dass alles freiwillig abläuft", sagt Erzieher Sebastian Sorgenfrei, der seit der Neueröffnung des Clubs 2018 dort arbeitet. "Die Kinder sollen ihre Freizeit selbst gestalten können." Seit Corona ist der Jugendclub nun wieder gut besucht.
Zwischen 40 und 60 junge Menschen kommen täglich. Alle unter einen Hut zu bringen, ist für die Mitarbeitenden eine Herausforderung. "Da kommt dann ein Achtjähriger mit seinen Hausaufgaben, dann ein Zwölftklässler mit Integralrechnung. Diese Kontraste und die Geschichten hinter den Besucherinnen und Besuchern - das geht schon auf die Psyche", sagt Sebastian Sorgenfrei. Drei Stellen hat das Jugendamt für den Club bewilligt. Die Mitarbeitenden kümmern sich neben den Kindern auch um das komplette zweistöckige Gebäude und die Gartenpflege. "Da bleibt dann auch mal der Rasen länger stehen", lacht Sebastian Sorgenfrei.
36 Jugendfreizeiteinrichtungen gibt es in Marzahn-Hellersdorf. Damit sei der Bezirk im berlinweiten Vergleich gut ausgestattet, sagt Jugendstadtrat Gordon Lemm. Dennoch sieht er Verbesserungsmöglichkeiten bei der Ausstattung.
"Wir haben Einrichtungen, die anderthalb Stellen haben pro Monat, das reicht vorn und hinten nicht. Wenn einer krank oder im Urlaub ist, kann man das Angebot nicht adäquat anbieten. Die Sache ist, wir kriegen das Geld nicht eins zu eins vom Land Berlin und müssen mit den anderen Ressorts kämpfen. Das mache ich für den Jugendbereich – manchmal erfolgreich, aber nicht immer." Knapp sieben Millionen investiert der Bezirk pro Jahr in Jugendfreizeiteinrichtungen.
In der Beatrix-Potter-Grundschule in Hellersdorf türmen sich die Kinder zu einer großen Pyramide auf, ein Mädchen mit blondem Pferdeschwanz bildet die Spitze. Kristina Schwenk hält ihre Hand. Sie selbst ist im Bezirk aufgewachsen, geht in den Zirkus, seit sie sechs oder sieben war. So genau weiß sie es gar nicht mehr. Aber an ihre Erfahrungen mit dem Projekt erinnert sie sich gut. "Der Zirkus hat mir geholfen, mich persönlich zu finden", sagt Schenk. "Die Teamarbeit, das Miteinander-Klarkommen. Ich hatte auch einige Sprecherrollen. Musste laut reden, Brust raus, mich präsentieren. Das hat mir auch in der Schule geholfen, bei Präsentationen. Hätte ich den Zirkus nicht gehabt, wäre das die reinste Katastrophe gewesen." Nach dem Freiwilligendienst beim Zirkus will sie studieren oder eine Ausbildung zur Zahntechnikerin machen, sagt sie.
Alles kann der Zirkus für die Kinder nicht leisten, aber einen Teil zu ihrer Entwicklung beitragen, sagt auch der Zirkusleiter Fabian Gröger. "Im Zirkus ist es ja so, dass man einfach mal mit anpacken muss. Und wenn der Jonglierball runterfällt, dann ist das kein Scheitern, sondern man hebt ihn auf und versucht es neu. Also das heißt, wir trainieren auch Frustrationstoleranz, Teamfähigkeit, dass man zusammen arbeitet. Das sind ja alles Effekte, die auch fürs Berufsleben wichtig sind."
Sendung: Wir wollen reden, 14.05.2024, 20.15 Uhr
Beitrag von Margarethe Neubauer
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