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Audio: rbb24 Abendschau | 07.06.2024 | Dorit Knieling | Quelle: IMAGO / Funke Foto Services

Berliner Verfassungsgericht

Ex-Verfassungsrichter werfen Parlament "Versagen" bei Neubesetzung von Richterposten vor

Die Amtszeit mehrerer Richter am Berliner Verfassungsgericht ist abgelaufen - und zwar schon 2021. Doch bislang hat das Abgeordnetenhaus keine Nachfolger gewählt. Frühere Verfassungsrichter zweifeln deshalb sogar an der Legitimation des Gerichts. Von Sabine Müller

Margret Diwell und Helge Sodan sind besonnene Menschen, die ihre Worte genau wägen. Zur politischen Hängepartie um die Neubesetzung des Landesverfassungsgerichts werden sie gegenüber dem rbb deutlich.

"Das ist eine Respektlosigkeit", sagt Sodan, der von 2000 bis 2007 Präsident des Landesverfassungsgerichts war. Sechs der neun Richterposten hätten regulär schon im Juli 2021 neu besetzt werden müssen. Mittlerweile seien 40 Prozent der ursprünglichen Amtsdauer dazugekommen, rechnet Sodan vor. "Das kann man meines Erachtens nicht mehr rechtfertigen." Auch seine Nachfolgerin Diwell, Präsidentin von 2007 bis 2012, sieht eine "wirklich große Respektlosigkeit gegenüber den Richterinnen und Richtern und ihrem Engagement, denn die Arbeitsbelastung ist gewaltig".

Die Richterinnen und Richter am Landesverfassungsgericht, die regulär für sieben Jahre gewählt werden, arbeiten ehrenamtlich. Es sei eigentlich niemandem zuzumuten, drei Jahre länger im Amt zu bleiben, kritisieren Diwell und Sodan. Zwei der Mitglieder mit abgelaufener Amtszeit haben bereits Konsequenzen gezogen. Margarete von Galen hatte im Oktober 2023 um ihre Entlassung gebeten, Kurt Ahmet Alagün im April dieses Jahres. Beide waren auf Vorschlag der Grünen ins Amt gekommen.

Sechs Richterposten ohne Nachfolge

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Am Verfassungsgericht, dem obersten Berliner Gericht, hätte ein Großteil der Richterposten seit mehr als zwei Jahren neu besetzt werden müssen. Aktuell beharken sich Regierungsfraktionen und Opposition. Die Hängepartie hat bereits personelle Konsequenzen. Von A. Ulrich und B. Hermel

Ärger über "parteipolitische Machtspiele"

Dass sich die Neubesetzung jetzt schon jahrelang hinzieht, hat verschiedene Gründe. Im Sommer 2021 wurde die Richterwahl wegen der nahenden Abgeordnetenhauswahl verschoben, danach musste das Landesverfassungsgericht zum Wahl-Chaos urteilen. Es folgten Wahlwiederholung und Regierungsbildung. Allerdings ist die neue schwarz-rote Koalition jetzt schon über ein Jahr im Amt und die überfälligen Posten sind immer noch nicht neu besetzt. Seit einigen Monaten reden CDU, SPD, Grüne und Linke regelmäßig über das Thema, konnten aber bisher keine Lösung präsentieren.

"Das sind nichts anderes als parteipolitische Machtspiele", glaubt Ex-Gerichtspräsidentin Margret Diwell. Sechs Plätze am Landesverfassungsgericht müssen neu besetzt werden. Für jeweils zwei davon haben CDU und Grüne das Vorschlagsrecht, für einen die SPD. Auf dem sechsten Posten sitzt bisher ein von der Linken vorgeschlagener Richter, rechnerisch müsste dieser Platz jetzt aber eigentlich an die AfD gehen. Allerdings waren sich CDU, SPD, Grüne und Linke von Beginn an einig, dass sie die rechtspopulistische Fraktion nicht in die Gespräche über das Personalpaket einbinden wollen. Ein Kandidat der AfD hätte wohl auch keine Chance im Parlament, da zur Wahl eine Zweidrittelmehrheit notwendig ist.

Ob die vier Fraktionen aktuell nur über die Besetzung des sechsten Platzes streiten oder ob es auch darüber hinaus Probleme mit dem Gesamtpaket gibt, ist nicht klar.

Erklärungsversuche

Der frühere Präsident des Landesverfassungsgerichts Helge Sodan hat kein Verständnis mehr für Verzögerungen. "Das Parlament ist am Zug, es ist gesetzlich verpflichtet, Mitglieder zu wählen", betont Sodan. "Und wenn es dieser Aufgabe nicht nachkommt, dann ist das schon ein Versagen."

Die Fraktionschefs von CDU und Grünen weisen den Vorwurf zurück, parteipolitisches Fingerhakeln sei der Grund für die langen Verhandlungen. "Wir spielen hier keine parteipolitischen Spielchen, aber es ist eine schwierige Situation, ein gutes Gesamtpaket hinzukriegen", so der Grüne Werner Graf zum rbb. Graf und sein Counterpart Dirk Stettner von der CDU äußern Verständnis für den Ärger der Ex-Richter. Stettner betont aber, man wolle "ein gutes Ergebnis miteinander erzielen und da geht Gründlichkeit und Qualität sicherlich vor Schnelligkeit".

Dazu, woran es bei den Verhandlungen genau hakt, wollen Stettner und Graf nichts sagen.

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Was bedeutet die Hängepartie für die Arbeit des Gerichts?

Laut Pressestelle des Verfassungsgerichtshofs ist das Gericht "nach wie vor beschluss- und entscheidungsfähig." Ein Interview mit dem rbb lehnte Präsidentin Ludgera Selting mit der Begründung ab, sie wolle nicht den Eindruck erwecken, dass sie Einfluss auf die Arbeit des Abgeordnetenhauses nehmen wolle.

Die Ex-Vorsitzenden Margret Diwell und Helge Sodan haben keinen Zweifel daran, dass gleiche Arbeitsbelastung bei nur noch sieben Richterinnen und Richtern zu längeren Verfahrensdauern führt.

Die Initiative "Berlin Autofrei" etwa wartet seit mehr als anderthalb Jahren auf eine Entscheidung, ob ihr Gesetzentwurf für extrem restriktiven Autoverkehr in der Innenstadt zulässig ist. Sprecherin Nina Noblé sagte dem rbb, die Initiative sehe sich durch die zeitliche Verschleppung ausgebremst und die direkte Demokratie eingeschränkt. Noblé äußerte Verständnis dafür, falls das Gericht eine Neubesetzung abwarte. Dem Abgeordnetenhaus und hier besonders den Regierungsfraktionen macht sie aber Vorwürfe. "Sie lassen uns am langen Arm verhungern. Wir haben ein verfassungsmäßiges Recht auf Direkte Demokratie, und die aktuelle Verzögerung verhindert auch die dringend benötigte Verkehrswende für Berlin."

Zweifel an der Legitimation des Gerichts

Aber selbst wenn die Entscheidung des Gerichts zu "Berlin Autofrei" bald fiele, hätte sie nach Ansicht der beiden Ex-Vorsitzenden Diwell und Sodan eventuell keinen Bestand. Sie zweifeln mittlerweile an der Legitimation des Landesverfassungsgerichts, halten die Besetzung nicht mehr für vorschriftsgemäß. Zur Begründung verweisen beide auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe.

Als dieses die Anfechtung der Wiederholungswahl in Berlin ablehnte, ging es auch auf die überschrittenen Amtszeiten der sechs Richterinnen und Richter ein. Die damals 15-monatige Überschreitung bewertete Karlsruhe als noch vertretbar, erklärte aber auch: "Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dass ein Verstoß gegen den gesetzlichen Richter dann gegeben sein kann, wenn die Amtszeit ganz erheblich überschritten oder eine Ersatzwahl aus sachfremden - etwa parteipolitischen - Gründen ungebührlich verzögert oder bewusst unterlassen wird."

Diwell und Sodan fürchten, dass nun alle Urteile des Berliner Landesverfassungsgerichts, wo vier der verbliebenen sieben Richter seit Jahren überfällig sind, mit guten Gründen anfechtbar wären. "Ich erwarte, dass das Abgeordnetenhaus jetzt umgehend den Streit beilegt und die Wahlen ansetzt", sagt Margret Diwell. Sodan fordert eine Entscheidung "möglichst noch vor der Sommerpause".

Die Fraktionschefs Dirk Stettner und Werner Graf zeigen sich optimistisch, dass eine Richter-Wahl tatsächlich vor der parlamentarischen Sommerpause über die Bühne gegangen sein könnte. Bis dahin sind es noch zwei Sitzungen. Danach wäre die nächste erst Mitte September.

Sendung: rbb24 Abendschau, 07.06.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Sabine Müller

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