Viele Erststimmen für die AfD?
Bei der Landtagswahl könnten am Ende ungewöhnlich viele Überhangmandate anfallen. Nur wäre das Brandenburger Wahlrecht darauf nicht vorbereitet. Eine Studie befürchtet, dass am Ende das Parlament nicht verfassungskonform wäre. Von Oliver Noffke
Wird der nächste Brandenburger Landtag größer sein als bisher? Eventuell sogar deutlich? Werden Überhang- und Ausgleichsmandate über den Wahlsieg entscheiden? Vielleicht sogar über Regierungsmehrheiten? Die Bertelsmann-Stiftung hält das für möglich und bezweifelt, dass der nächste Landtag verfassungskonform wäre. Die Gründe dafür lägen in Beschränkungen, die die Landesverfassung zur Größe des Parlaments macht. Und zudem in den aktuellen Umfragewerten.
Brandenburgs Landtag soll sich laut Landeswahlgesetz aus mindestens 88 Abgeordneten zusammensetzen. Diese Zahl ergibt sich aus den 44 Wahlkreisen, in denen über die Erststimme Abgeordnete direkt bestimmt werden. Ebenso viele Sitze im Landtag werden über die Landeslisten der Parteien verteilt. Am Ende soll die Zusammensetzung des Parlaments das Wahlergebnis bei den Zweitstimmen widerspiegeln.
Seit der Wiedervereinigung gab es nur eine Wahl, nach der der brandenburgische Landestag mehr als die Mindestzahl an Abgeordneten hatte. Ab 1999 waren für eine Legislaturperiode 89 Sitze im Plenarsaal montiert. Die SPD hatte ein Überhangmandat errungen. Sie hatte über die Wahlkreise ein Mandat mehr direkt gewonnen, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zugestanden hätte. Ausgeglichen werden musste das bei anderen Parteien nicht. Das Landeswahlgesetz erlaubt bis zu zwei Überhangmandate ohne Gegengewicht.
Im September seien deutlich mehr Überhangmandate wahrscheinlich, so die Bertelsmann-Stiftung. Möglicherweise zu viele, um sie gemäß der Verfassung ausgleichen zu können. In einer am Donnerstag veröffentlichten Studie rechnet die Stiftung vor, dass die AfD 37 Wahlkreise direkt gewinnen könnte. Das wären rund 42 Prozent der bestehenden Parlamentssitze. Allerdings liegt die AfD in derzeitigen Umfragen bei 26,5 Prozent, heißt es in der Studie [bertelsmann-stiftung.de].
Damit der Landtag das Ergebnis bei den Zweitstimmen abbilde, müssten andere Parteien Ausgleichsmandate erhalten. Denn Direktmandate sind sicher. Das Parlament würde vergrößert werden müssen. Damit in so einem Beispiel die AfD möglichst genau 26,5 Prozent der Abgeordneten stellt, wäre ein Landtag mit 140 Sitzen notwendig. Doch das ist unmöglich. Denn in Brandenburg darf das Parlament nicht aus mehr als 110 Abgeordneten bestehen [bravors.brandenburg.de].
Ein solches Szenario hätte weitreichende Konsequenzen. Es könnte Regierungsmehrheiten unterbinden und die Gesetzgebung beeinflussen.
So sieht die Bertelsmann-Stiftung in Umfragewerten eine knappe Mehrheit bei den Zweitstimmen für die derzeitige Koalition. SPD, CDU und Bündnis 90/Die Grünen könnten jedoch keine Regierung bilden. Zudem hätte die AfD in diesem Fall mehr als ein Drittel der Parlamentssitze und damit eine "verfassungsändernde Sperrminorität". An ihr vorbei wären dann keine Änderungen der Landesverfassungen möglich.
Die "zunehmenden Segmentierung" des Parteiensystems – oft kommen mehr Parteien in die Parlamente als noch vor einigen Jahren – machen viele Überhangmandate zunehmend wahrscheinlicher, heißt es. Nur: "Überhangmandate verzerren den Proporz der Verhältniswahl und sind darüber hinaus mit gravierenden Verstößen gegen die Wahlgleichheit verbunden." Trete der beschriebene Fall ein, seien Wahlprüfungsbeschwerden absehbar, heißt es, und eine Wahlwiederholung möglich.
Die Bertelsmann-Stiftung sieht eine Reform des Landeswahlrechts dringend erforderlich. Vor der Wahl im September solle der Landtag eine einmalige Anhebung auf 140 Abgeordnete einbringen und beschließen. Wahlrechtsexperte und Autor der Studie, Robert Verkamp, sagte rbb24 Brandenburg aktuell am Montag: "Dann wäre man bei der anstehenden Landtagswahl die Risiken vollständig los und dann könnte man sich in der nächsten Legislaturperiode um eine nachhaltige Lösung kümmern", so Vehrkamp. "Unvernünftig wäre einfach zu sagen: Augen zu und durch und wir nehmen das Risiko einer verfassungswidrigen Mandatsverteilung einfach in Kauf."
Unterdessen hat die CDU den Kampf um die Direktmandate eröffnet und eine Erststimmen-Kampagne gestartet. Mit kleinen Videos sollen sich alle 44 Direktkandidatinnen und -kandidaten an ihre Wahlkreise wenden.
Gordon Hoffmann, CDU-Kandidat in der Prignitz, bezeichnet seine Partei in einem dieser Clips als "Anti-AfD". Wer eine Mehrheit für Rechtspopulisten verhindern wolle, müsse seine Erststimme der CDU geben. "Selbst wenn ihr beim letzten Mal nicht die CDU gewählt, selbst wenn ihr nicht der größte Fan unserer Partei seid", so Hoffmann. Der Konservative richtet sich also insbesondere an die Wählerkreise von SPD, Grünen, Linken, BSW und BVB/Freie Wähler.
Um ein Direktmandat zu holen, ist die einfache Mehrheit notwendig. Ein Bruchteil der Wählerstimmen reicht dafür meist aus. Bei der Bundestagswahl 2021 holte etwa der sächsische CDU-Politiker Lars Rohwer ein Direktmandat in Dresden – mit 18,6 Prozent. Am Ende erhielt er lediglich 35 Stimmen mehr als der Zweitplatzierte.
Bei der Europawahl erhielt die AfD 27,5 Prozent in Brandenburg. Kein Durchmarsch, aber deutlich mehr als die Zweitplatzierte CDU. Die Ergebnisse der Kommunalwahlen in den 18 Landkreisen und kreisfreien Städten haben zudem gezeigt, dass die AfD überall in Brandenburg gewinnen kann. Lediglich in Potsdam und Potsdam-Mittelmark gelang das der Partei nicht.
Die beiden Erkenntnisse aus den Wahlen Anfang Juni stützen das Szenario, das die Bertelsmann-Stiftung beschreibt. Wenn sich dieses Wahlverhalten auch auf die Erststimmen bei der Landtagswahl überträgt, wären der AfD viele Direktmandate sicher. Und wahrscheinlich hätte sie dann mehr Abgeordnete im nächsten Parlament, als ihr nach dem Ergebnis der Zweitstimmen zustünden.
Er hoffe persönlich auf ein unproblematisches Wahlergebnis, sagte Wahlrechtsexperte Vehrkamp dem rbb. "Wenn wir aber so ein Wahlergebnis mit zehn oder zwölf Überhangmandaten bekommen, dann garantiere ich Ihnen, wird es zu Wahlprüfungsklagen kommen."
Sicher scheint angesichts der jüngsten Wahlergebnisse und aktuellen Umfragen: Der nächste Landtag wird größer, unübersichtlicher, möglicherweise wird seine Zusammensetzung umstritten, definitiv wird das Parlament für die Steuerzahler teurer.
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Beitrag von Oliver Noffke
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