Berliner Reaktionen auf die Wahl in Frankreich
In Frankreich gewinnt ein Linksbündnis die Parlamentswahlen, der Rechtsruck fällt schwächer aus als erwartet. Die ersten französischen Reaktionen in Berlin: große Erleichterung auf der einen, viel Ungewissheit auf der anderen Seite.
Am Tag nach den Parlamentswahlen in Frankreich ist klar: Der von vielen erwartete Sieg des rechtspopulistischen Rassemblement National (RN) wurde verhindert - Wahlsiegerin ist das Linksbündnis "Nouveau Front Populaire". Zu ihm gehören unter anderem die Grünen, die sozialistische Partei sowie die linkspopulistische Partei "La France Insoumise" (LFI).
Die Französin Amelie, die seit zehn Jahren in Berlin lebt, hat das Wahlergebnis mit ihren Kindern in ihrer Küche verfolgt. "Ich bin verrückt geworden, ich war sehr, sehr froh", sagt die 42-Jährige. Amelies Kinder haben die deutsche und die französische Staatsbürgerschaft - nur einer der vielen Gründe, warum sie die Wahl mit Spannung verfolgt hat. Im Wahlkampf hat das Thema eine große Rolle gespielt - der Chef des RN etwa, Jordan Bardella, hatte angekündigt, in einer vom RN geführten Regierung Franzosen mit doppelter Staatsbürgerschaft von wichtigen Posten auszuschließen.
Amelie hofft, dass dem Linksbündnis eine konstruktive Zusammenarbeit gelingt - und, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Frankreich wieder gestärkt wird. "Es gibt viel Armut und Diskriminierung. Wir brauchen mehr Gleichheit zwischen den Menschen. Der RN will die Leute weiter trennen, die Reichen reicher machen und die Armen ärmer."
Einen konkreten Ansatzpunkt sieht sie auch in der Stärkung des Sozialsystems. "In Frankreich ist alles sehr teuer und kompliziert. Ich habe selbst drei Kinder, habe gerade Zwillinge bekommen. Ich wusste, dass ich das in Frankreich nicht schaffen kann. Es gibt viel zu tun."
Die Freude bei vielen Franzosen und Französinnen in der Region ist groß. Viele sind - als "Expats" im Ausland - naturgemäß pro-europäisch eingestellt. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie das Sieger-Bündnis "Nouveau Front Populaire" trotz der ungleichen Positionen seiner Mitglieder Politik machen wird - gerade mit Blick auf Europa und die deutsch-französischen Beziehungen.
"Im Moment ist das Land unregierbar, wenn man sich die Konstellationen anschaut", sagt Claire Demesmay - Politikwissenschaftlerin am Centre Marc Bloch der Humboldt-Universität Berlin im Gespräch mit Radio Drei vom rbb. Denn: die vier Parteien des Linksbündnisses teilten nur wenige Positionen, v.a. in der Sozialpolitik - etwa die Rückkehr zum Renteneintrittsalter von 60 Jahren.
Anders sieht es etwa beim Thema Europa aus. "Es gibt im Moment kein klares Programm mit Ideen und Vorschlägen für die Europäische Integration", sagt Demesmay. Auf der einen Seite stünden die pro-europäischen Grünen und Sozialisten, auf der anderen Seite das LFI und ihr Parteichef Jean-Luc Mélenchon. Demesmay verweist etwa auf das Pamphlet "Le hareng de Bismarck" (deutsch: Der Bismarck-Hering) aus dem Jahr 2015, in dem Mélenchon "sehr aggressiv" Kritik an Deutschland und der Europäischen Union übte.
Trotzdem sei das Ergebnis zunächst einmal eine gute Nachricht für die deutsch-französischen Beziehungen. Ein Sieg der Rechtspopulisten hätte laut Demesmay deutliche negative Auswirkungen gehabt. "Da hätte diese deutsch-französische Achse überhaupt keine Rolle mehr gespielt", sagt Claire Demesmay. Sie erwartet, dass Deutschland und Frankreich auch weiterhin eng zusammenarbeiten werden und setzt vor allem auf die engen insitutionellen Verbindungen zwischen beiden Ländern: "In allen Ministerien gibt es Kontakte zu den Kollegen im anderen Land. Das wird und das muss so bleiben", so die Politikwissenschaftlerin.
Dem neuen Bündnis fehlen mehr als 100 Sitze bis zur absoluten Mehrheit. Schon jetzt ist die Bereitschaft zu Koalitionen - etwa mit dem zweitplatzierten Macron-Lager - unter den Bündnis-Parteien sehr unterschiedlich. Noch im Wahlkampf warnte Präsident Emmanuel Macron vor einem "Bürgerkrieg", sollte das rechte oder das linke Lager gewinnen. Vor der Stichwahl ruderte er wieder zurück - war er doch nun auf die Linken angewiesen, um eine absolute Mehrheit der Rechtspopulisten zu verhindern.
Pascal Thibaut ist Korrespondent von Radio France International in Berlin. Auch er betont, wie schwierig die Regierungsbildung in Frankreich werden dürfte. Mit Blick auf die Zukunft des Präsidenten sagt er im rbb-Interview: "Er muss runter von seinem Olymp und weniger eine Jupiter-Haltung einnehmen."
Thibaut rechnet damit, dass Emmanuel Macron - wie angekündigt - im Amt des Präsidenten bleiben wird. "In der jetzigen Konstellation mit den unklaren Mehrheiten verfügt er wahrscheinlich über mehr Mannövrierfähigkeit, als wenn der RN eine starke relative Mehrheit bekommen hätte"
In den ungewöhnlichen Mehrheitskonstellationen sieht Thibaut auch eine Chance - nämlich für eine stärkere Rolle der französischen Nationalversammlung. "Das ist vielleicht eine historische Wende von einem Präsidentschaftssystem hin zu einer richtigen parlamentarischen Demokratie. In einem Land, wo traditionell die Nationalversammlung eigentlich nur da ist, um die Vorhaben des Präsidenten durchzuwinken."
Der rechtspopulistische Rassemblement National landete bei der Parlamentswahl auf dem dritten Platz und wird nach aktuellem Stand 143 Sitze in der Nationalversammlung erhalten. Der Rechtsruck in Frankreich - er fiel schwächer aus, als viele das erwartet hatten. Trotzdem bleibt der RN stark. Nicht ohne Grund sprach Marine Le Pen im Fernsehsender TF1 von einem "aufgeschobenen Sieg".
Camille arbeitet seit einem Jahr als professionelle Tänzerin in Berlin. Aufgewachsen ist die 26-Jährige in einem Vorort von Paris - als Kind französischer und beninischer Eltern. Der Rechtsruck in Frankreich macht ihr Angst. Im Wahlkampf sei es - gerade in den rechtsgerichteten Medien - zu vielen rassistischen Aussagen und Vorfällen gekommen.
"Wenn der RN gewonnen hätte, weiß ich nicht, wann ich zurück nach Frankreich gegangen wäre", sagt sie. "Das Hauptthema des RN ist die Einwanderung. Ich wurde in Frankreich geboren und bin dort aufgewachsen. Ich war ein Kind, das ohne Einwanderung gar nicht existiert hätte."
Rassismus gebe es in Frankreich schon lange, sagt Camille. Seitdem sich Politikerinnen und Politiker in den Medien immer öfter trauten, "schreckliche" Dinge über marginalisierte Gruppen wie Schwarze, Araber, Juden oder Homosexuelle zu sagen, habe sich ihr Gefühl noch einmal verstärkt. "Ich habe nicht mehr das Gefühl, dass es für eine schwarze Frau ein sicherer Ort ist", sagt sie. Ein Sieg des Rassemblement National in ihrer Heimat - den hätte sie als eine Nachricht verstanden: "Verschwinde!"
Sendung: rbb24 Inforadio, 8. Juli 2024, 16:50
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