Antidemokratische Vorfälle
Rassistische Parolen im Unterricht, Hakenkreuz-Schmierereien auf dem Schulklo: Bei antidemokratischen Tendenzen in der Schule sind vor allem die Lehrkräfte gefragt. Doch die fühlen sich darauf nicht immer gut vorbereitet. Von Jonas Wintermantel
"L’amour toujours" von Gigi D’Agostino in der Sylt-Version ("Deutschland den Deutschen, Ausländer raus") wird öfter mal gesungen, gerade von den unteren Klassenstufen", erzählt Lukas*. Er ist seit einigen Monaten Referendar an einer Berliner Gesamtschule. Hier unterrichtet er unter anderem Politik für die Jahrgänge sieben bis neun. "Wir hatten vor Kurzem auch einen Vorfall mit Hakenkreuz-Schmierereien. Aus der Mail der Schulleitung konnte ich entnehmen, dass das nicht zum ersten Mal passiert ist."
Lukas ordnet viele dieser Vorfälle – mit Blick auf das Alter seiner Schüler: innen – als Provokationen ein, die aber nicht im luftleeren Raum entstünden. Aussagen und Meinungen – auch aus dem Elternhaus – würden oft unreflektiert in den Klassenraum gebracht. "Ich fühle mich durch das Studium nicht gut darauf vorbereitet – dort geht man nicht wirklich darauf ein, wie man mit solchen konkreten Vorfällen umgeht."
Der Vorsitzende des Landesschülerausschusses Berlin, Aimo Görne, beobachtet eine Veränderung in der Schülerschaft in eine antidemokratische Richtung: "In den letzten Jahren nehmen wir wahr, dass bestimmte rassistische Narrative oder Diskriminierungen, etwa gegenüber Menschen mit Behinderung, nicht mehr hinterfragt werden - oder öfter unwidersprochen bleiben." Gleichzeitig steige die Bereitschaft, diese Positionen als legitime Meinungsäußerung hinzunehmen, so Görne. Meistens seien diese Schüler:innen selbst davon überzeugt, prodemokratisch eingestellt zu sein.
Wie groß das Problem in den Klassenzimmern ist, lässt sich nur schwer beziffern. Ein Indiz ist die Polizeistatistik zu politisch motivierter Kriminalität. Demnach wurden im Jahr 2022 an Berliner Schulen 75 Fälle von politisch rechts motivierter Kriminalität registriert. Im Jahr 2023 waren es 70 Fälle – und in diesem Jahr wurden bis zum 25. Juni 40 Fälle registriert, also etwas mehr als die Hälfte des Vorjahres.
Mehrere Initiativen, die Workshops zum Umgang mit Rechtsextremismus oder Rassismus für Lehrkräfte und Schüler:innen anbieten, haben dem rbb auf Nachfrage zurückgemeldet, dass die Anfragen zunehmen. "Bei uns melden sich in letzter Zeit verstärkt Lehrer, die diese Problematik in ihrer Klasse sehen, seien es Hassbotschaften, rechte Äußerungen oder rechte Provokationen", so die Initiative "Gesicht zeigen".
"Antidemokratische Tendenzen sind kein neues Phänomen, sie sind nur sichtbarer und sagbarer geworden", sagt Udo Dannemann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Bildung der Universität Potsdam. Im Modellprojekt "Starke Lehrer*innen, Starke Schüler*innen" hat Dannemann das Phänomen der antidemokratischer Tendenzen an sechs Oberstufenzentren in Brandenburg untersucht.
Der Begriff "antidemokratisch" umfasst verschiedene Diskriminierungsarten, die jedoch eine Gemeinsamkeit aufweisen: sie lehnen den Gleichheitsgrundsatz ab und werten bestimmte Gruppen ab. Die Studie unterscheidet zwischen antidemokratischen "Positionen", die noch kein geschlossenes Weltbild zur Grundlage haben und "Einstellungen", bei denen das bereits der Fall ist.
Antidemokratische Positionen und Einstellungen finden sich an allen von Dannemann untersuchten Schulen. Die multiplen Krisen, besonders die Corona-Pandemie, dienten seiner Einschätzung nach als eine Art Brandbeschleuniger für antidemokratische Tendenzen, zum Beispiel in Form von Verschwörungstheorien. Dabei ist allerdings die Sensibilität für bestimmte Diskriminierungsformen unter den Lehrkräften teilweise sehr unterschiedlich. Verschiedene Lehrpersonen nehmen an ein- und derselben Schule unterschiedlich viele Diskriminierungsformen wahr. "Es stellte sich heraus, dass der demokratische Werterahmen gar nicht eindeutig klar war bei allen Lehrkräften – die Vorstellung, was antidemokratisch ist und wann man handeln muss, ist sehr unterschiedlich", sagt Dannemann.
Daher braucht es nach Einschätzung von Dannemann vor allem eine stärkere Sensibilisierung auf Seiten der Lehrkräfte – etwa durch schulinterne Fortbildungen zu unterschiedlichen Diskriminierungsformen, aber auch dauerhafte Strukturen wie speziell ausgebildeten "Konfliktlöseteams". Und: es brauche bildungspolitische Unterstützung von außen, so Dannemann. Anfang dieses Jahres wurde die Fachstelle "Starke Lehrer - starke Schüler" im Bildungsministerium ins Leben gerufen. Sie bietet etwa Fortbildungen für die Brandenburger Schulen an. Für Dannemann ist das ein "erster richtiger Schritt".
Rechte Kräfte versuchen unterdessen aktiv auf junge Zielgruppen und auch das System Schule einzuwirken. Er erlebe stark, dass Aussagen aus der AfD-Wahlwerbung in die Schule hereingetragen werden, erzählt Referendar Lukas. "'Sei schlau, wähl' blau' höre ich eigentlich täglich."
Zuletzt machte die rechtsradikale Partei "Dritter Weg" Schlagzeilen, als sie vor einer Berliner Schule Flyer und Sticker verteilte. Die in Teilen gesichert rechtsextreme AfD hat in Berlin ein Meldeportal online gestellt, in dem Vorfälle aus dem Unterricht gemeldet werden sollen, in denen Lehrer:innen mutmaßlich gegen das "Neutralitätsgebot" verstoßen. Ein ähnliches Portal war in Hamburg im Jahr 2018 bereits online.
Das viel beschworene "Neutralitätsgebot" werde allerdings häufig missverstanden, sagt Klaudia Kachelrieß, Referentin bei der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft Berlin (GEW).
Vielmehr sehe der Rechtsrahmen - etwa die Schulgesetze der Länder - vor, dass Lehrkräfte im Dienste des Staates die Grundwerte der Demokratie verteidigen. "Lehrkräfte haben den Auftrag, Schüler:innen demokratische Werte zu vermitteln. Gegenüber demokratiefeindlichen Meinungen dürfen sie nicht neutral sein", sagt Kachelrieß. Gezielte Versuche der Einflussnahme durch die AfD führten zu viel Verunsicherung bei den Lehrkräften und den Schulleitungen.
Die Leitlinien für die politische Bildung bildet der "Beutelsbacher Konsens". Er wurde in den 1970er-Jahren formuliert und besteht aus drei zentralen Leitgedanken. Das Überwältigungsverbot verbietet es, den Schüler:innen eine bestimmte Meinung aufzuzwingen, das Kontroversitätsgebot fordert, gesellschaftlich kontroverse Themen auch im Unterricht kontrovers zu behandeln. Zuletzt sollen Schüler:innen in die Lage versetzt werden, eine politische Situation und ihre eigene Interessenlage zu analysieren und die vorgefundene politische Lage im Sinne der eigenen Interessen zu beeinflussen.
Kachelrieß und die GEW fordern eine massive Aufstockung der Mittel in der Demokratiebildung für schulinterne Fortbildungen, Beratung und Schulprojekttage. Es brauche ein starkes peripheres System, welches die Schulen in ihrem Bildungsauftrag unterstützt.
Einer der Berliner Akteure bei der Fortbildung ist die Mobile Beratung gegen Rechtsextremismus (MBR) – gerade für angehende Lehrkräfte. "Es gibt Menschen, die Lehramt studieren und das Referendariat durchlaufen und sich nicht ein einziges Mal mit diesen Themen auseinandersetzen mussten", so MBR-Beraterin Anna Schmidt im Interview.
"Die gesellschaftlichen Herausforderungen verändern sich. Es kann sein, dass ich mich im Studium damit beschäftigt habe und seit 30 Jahren unterrichte. In der Zwischenzeit haben sich rechtsextreme Erscheinungsformen sehr stark verändert – auch die Ansprache von Jugendlichen ist eine ganz andere geworden."
Schmidt fordert, dass regelmäßige Fortbildungen im Bereich Rechtsextremismus verpflichtender Bestandteil der Aus- und Weiterbildung werden müssen. Die Berliner Senatsverwaltung für Bildung betont, dass es für Lehrkräfte grundsätzlich eine Fortbildungsverpflichtung und zahlreiche Angebote gebe.
Auch Referendar Lukas aus Berlin würde sich über mehr spezifische Fortbildungsangebote freuen: "Ich würde mir wünschen, dass wir konkrete Fälle durchsprechen und eine konkrete Möglichkeit an die Hand gegeben bekommen - eine Interventionstechnik, die wir einfach das nächste Mal ausprobieren können."
Hilfreich seien für ihn vor allem die begleitenden Fachseminare im Referendariat – denn hier gebe es Raum für Austausch und konkrete Hilfestellungen durch erfahrene Lehrkräfte. Hier habe er auch den Tipp bekommen, das nächste Mal, wenn das Sylt-Lied skandiert wird, den Text mit den Schüler:innen durchzugehen, um sich gemeinsam bewusst zu machen, was sie da singen. "Ich habe das Glück, dass ich Politik unterrichte und deswegen ein Fachseminar habe, wo es Raum gibt, um diese Fragen zu beantworten", sagt der Referendar. "Die Aufarbeitung rechtsextremer Fälle betrifft aber alle Fächer."
* Der Name wurde von der Redaktion geändert.
Sendung: rbb24 Inforadio, 05.07.2024, 08:30 Uhr
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Beitrag von Jonas Wintermantel
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