Verfassungsschutzbericht für Berlin
Rein zahlenmäßig betrachtet hat sich bei den extremistischen Gruppen in Berlin zuletzt nicht viel verändert. Entwarnung gibt der Verfassungsschutz aber nicht - im Gegenteil. Von Sabine Müller
Der Leiter des Berliner Verfassungsschutzes, Michael Fischer, warnt vor einer wachsenden Bedrohung durch extremistische Bestrebungen. Die Herausforderungen für seinen Nachrichtendienst seien "im vergangenen Jahr spürbar gewachsen", schreibt er im Verfassungsschutzbericht 2023: "Die Bedrohungen für unsere Demokratie haben sich in nahezu allen von uns bearbeiteten Phänomenbereichen intensiviert." Fischer nennt hier sowohl Islamismus und auslandsbezogenen Extremismus als auch Rechts- und Linksextremismus.
Nachdem im vergangenen Jahr vor allem die Folgen des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Fokus des Lageberichts standen, liegt der Schwerpunkt diesmal auf den antisemitischen und israelfeindlichen Attacken seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023. Laut Verfassungsschutz versuchten fast alle verfassungsfeindlichen Gruppierungen, die Eskalation des Nahost-Konflikts für ihre eigene Agenda zu instrumentalisieren. Vor allem junge Menschen sollten politisiert und radikalisiert werden.
"Antisemitismus und Hass auf alles Jüdische sind Bestandteile der Ideologien aller verfassungsfeindlichen Phänomenbereiche", beklagt Berlins Innensenatorin Iris Spranger (SPD). Eine besonders relevante Rolle bei den anti-israelischen und antisemitischen Aktionen auf Berlins Straßen, an Universitäten, Schulen und Kultureinrichtungen sowie in den sozialen Medien spielten laut Bericht Verfassungsfeinde aus dem islamistischen Spektrum und dem auslandsbezogenen Extremismus - dieser umfasst verfassungsfeindliche Bestrebungen von ausländischen Organisationen und ihrer in Deutschland aktiven Strukturen, die nicht religiös motiviert sind. Hervorgehoben wird hier die Gruppierung "Samidoun", die den Angriff auf Israel unter anderem öffentlich auf der Neuköllner Sonnenallee bejubelte. Genannt werden außerdem die Hamas selbst, Anhängerinnen und Anhänger des türkischen Rechts- und Linksextremismus sowie der salafistischen Szene.
Zahlreiche Straftaten wie ein Brandschlag auf eine Synagoge sowie Angriffe auf Jüdinnen und Juden, aber auch Polizisten und Journalisten wirkten sich auf die Sicherheitslage in Berlin aus. Auch rechtsextremistische Gruppierungen fielen laut Bericht mit antisemitischer und anti-israelischer Propaganda auf und verbanden das mit rassistischer und migrationsfeindlicher Agitation. In der linksextremistischen Szene sieht der Verfassungsschutz als Reaktion auf die Eskalation in Nahost "eine tiefe, ideologisch begründete Spaltung". Neben Solidarität mit Israel (insbesondere bei Postautonomen) gab es auch Unterstützung für pro-palästinensische Proteste.
Für den Verfassungsschutz bestimmte der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die ersten Monate des vergangenen Jahres. Vor allem in der rechtsextremistischen Szene war er inhaltlicher Schwerpunkt von Propaganda und Aktionen. Zum Beispiel wurde Angst vor einer neuen "Flüchtlingswelle" geschürt, Gruppierungen agierten als Multiplikatoren für russische Staatspropaganda sowie von Desinformation. Eine Ausnahme bildete auch 2023 wieder die Partei "Der III. Weg", die sich pro-ukrainisch positioniert. Sie sieht die Ukraine als Teil des "weißen Europas", das im Kampf gegen ein "raumfremdes Vielvölkerimperium" verteidigt werden müsse.
Russlands Krieg gegen die Ukraine dominierte auch Propaganda und Handeln der "Reichsbürger und Selbstverwalter" (Gruppierungen oder Einzelpersonen, die die Existenz der Bundesrepublik Deutschland und ihr Rechtssystem leugnen und ablehnen). Viele von ihnen sehen Russland als möglichen "Erlöser" oder "Befreier" Deutschlands von einem vermeintlichen "Besatzerregime", heißt es im aktuellen Lagebericht.
Sorge bereiten dem Berliner Verfassungsschutz weiterhin auch die Aktivitäten russischer Nachrichtendienste. Das Bedrohungspotential wird "auf unverändert hohem Niveau" gesehen, Russland nutze die Dienste, um seine wirtschaftlichen und politischen Ziele durchzusetzen. Das "Aktionsrepertoire" habe sich dabei in den vergangenen Jahren vergrößert. Neben klassischer Spionage beobachte man auch "hybride Bedrohungen" wie Cyberangriffe, Sabotageakte oder Desinformationskampagnen.
Die Gefährdungslage insbesondere durch jihad-salafistischen Islamismus sieht der Verfassungsschutz in Berlin laut Bericht - wie auch in ganz Deutschland - als "unverändert hoch" an. Nachdem Terrororganisationen wie "al-Qaida" und dem "Islamischen Staat" (IS) bereits seit Jahren zu Anschlägen im Westen aufriefen, wird das "größte Gefährdungspotential" nun bei der Gruppierung "Islamischer Staat Provinz Khorasan" (ISPK) gesehen. Mit ihr habe eine weitere international operierende Terror-Organisation ihre Aktivitäten in Berlin verstärkt, heißt es. Der ISPK hatte sich unter anderem zu dem Anschlag mit 140 Toten auf eine Veranstaltungshalle bei Moskau im März bekannt.
In den Fokus der ISPK-Propaganda geriet auch die "Ibn-Rushd-Goethe-Moschee" in Moabit. Unter anderem wurde sie im ISPK-Online-Magazin mehrfach für ihre liberale Haltung gegenüber Homosexuellen kritisiert, es war die Rede von einem "Hort der Teufelsanbetung". Im vergangenen Oktober schloss die Moschee, deren Gründung maßgeblich auf die Rechtsanwältin Seyran Ateş zurückgeht, aufgrund islamistischer Terrorbedrohung bis auf Weiteres.
Beim Blick auf die Zahl der involvierten Personen sieht der Verfassungsschutz wenig Bewegung in der extremistischen Szene in Berlin. Allerdings macht die Warnung von Leiter Michael Fischer vor "intensivierten Bedrohungen" deutlich, dass die reine Zahl allein noch nichts über besorgniserregende Aktivitäten der Szene aussagt. Zusätzliches Personal rekrutieren konnte einzig das islamistische Spektrum. Ihm wurden im vergangenen Jahr in Berlin 2.380 Personen zugerechnet, ein Plus von 110 Menschen. Davon werden 920 als "gewaltorientiert" eingeschätzt. Anteil am Personal-Plus dürfte die intensive Arbeit der jihad-salafistischen Szene in den sozialen Medien haben. Sie werden als Propaganda- und Rekrutierungsplattformen genutzt, um vor allem Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen.
"Spürbar professionalisiert" haben ihre Internet-Propaganda laut Verfassungsschutz auch "Reichsbürger und Selbstverwalter", die Reichweiten-Zuwächse besonders in Telegram-Gruppen und Kanälen erzielen. Die Szene mit einem gleichbleibenden Personenpotential von etwa 700 vernetzte sich "zunehmend im digitalen Raum". Stagniert hat das Personenpotential sowohl im Linksextremismus (3.700) als auch im Rechtsextremismus (1.450). Während die Zahl der Gewaltorientierten im linksextremistischen Spektrum weiter sank (von 850 auf 650), stieg sie in der rechtsextremistischen Szene leicht - hier gilt gut die Hälfte als gewaltorientiert.
Aktivste Gruppierung bei den Rechtsextremisten bleibt die Partei "Der III. Weg", obwohl ihre Mitgliederzahl 2023 erstmals seit Jahren stagnierte und sie mit 80 Personen nur etwa halb so viele Mitglieder hat wie "Die Heimat". "Der III. Weg" gilt aber als wichtiges Auffangbecken für "aktionsorientierte Rechtsextremisten".
Wie immer hat der Verfassungsschutz auch Rechtsextremisten in den Berliner Sicherheitsbehörden im Visier. 2023 wurden 115 neue Fälle erfasst, "bei denen tatsächlich Anhaltspunkte für den Verdacht auf ein politisch rechts motiviertes Fehlverhalten vorlagen", heißt es im aktuellen Bericht.
Sendung: rbb24 Inforadio, 16.07.2024, 14:40 Uhr
Beitrag von Sabine Müller
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