Gewerkschaft Verdi vs. Senat
Am heutigen Donnerstag wird in Berliner Kitas erneut gestreikt, und nächste Woche droht sogar komplett der Wegfall der Kita-Betreuung für 30.000 Kinder. Die Verhandlungen mit dem Senat sind festgefahren. Sebastian Schöbel erklärt die Hintergründe.
Wie festgefahren und unversöhnlich die Debatte um Entlastung der landeseigenen Kitaerzieher:innen ist, zeigte sich zuletzt im Berliner Abgeordnetenhaus. Da bezeichnete der sichtlich genervte Finanzsenator Stefan Evers (CDU) den Arbeitskampf der Gewerkschaften Verdi und GEW als "Sinnlosstreiks", weil die Forderungen für Berlin unerfüllbar seien, während draußen vor dem Parlamentsgebäude zum wiederholten Mal Erzieherinnen und Erzieher hinter Absperrgittern lautstark demonstrierten.
Hintergrund ist die Personalsituation in den 280 landeseigenen Kitabetrieben: Die Beschäftigten klagen seit Jahren über die enorme Belastung und Einschränkungen bei der pädagogischen Arbeit. Die zuständige Verdi-Gewerkschaftssekretärin Tina Böhmer spricht von einer "massiven Krise" und "prekären" Zuständen. Der Krankenstand sei hoch, immer wieder würden Erzieher:innen den Job verlassen oder Auszubildende frühzeitig abbrechen. Nach mehreren Warnstreiks in den vergangenen Monaten soll nun in der gesamten kommenden Woche gestreikt werden. Betroffen wären mehr als 30.000 Kinder und ihre Eltern.
Konkret fordern die Gewerkschaften nicht mehr Geld, sondern einen Entlastungstarifvertrag [PDF: verdi.de]. Der soll vor allem einen Mindestpersonalschlüssel für die Kitas festlegen und Regeln für den Gesundheitsschutz der Mitarbeitenden aufstellen. Zudem solle die Ausbildung verbessert werden. Für pädagogische Arbeit soll es mehr Zeit geben, damit die Betreuungsqualität steigt oder zumindest gehalten werden kann. Kernpunkt der Forderungen: Werden die Vorgaben nicht eingehalten, soll es einen Belastungsausgleich für die Erzieher:innen geben, in Form von zusätzlichen freien Tagen oder Geld.
Ähnliche Forderungen, vor allem bei der personellen Entlastung, stellen die Gewerkschaften auch für die Schulen auf: Hier gab es in den vergangenen drei Jahren bereits fast ein Dutzend Warnstreiks mit bis zu 20 Streiktagen.
Die Antwort des Senats in beiden Fällen, Kitas genauso wie Schulen, ist stets die gleiche: Nein. Denn Berlin ist Mitglied in der Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TDL), wie der zuständige Finanzsenator Evers nicht müde wird zu betonen. "Wir haben das in der Tarifgemeinschaft verschiedentlich vorgetragen, mehrere Male", so der CDU-Politiker. "Es wurde regelmäßig von der Mitgliederversammlung abgelehnt, dass hier die Tariflandschaft zersplittert, dass hier einzelne Länder Sonderwege gehen."
Ein solcher Sonderwege würde nämlich riskieren, dass Berlin aus der TDL ausgeschlossen wird - mit dem Ergebnis, dass künftig "nach Haushaltslage" bezahlt werde, so Evers. Angesichts massiver Einsparungen, die gerade in Berlin vorgenommen werden, kann das auch als Drohung verstanden werden.
Zudem habe die TDL den Erzieher:innen durchaus genützt: Der letzte Tarifabschluss sei für die Beschäftigten ausgesprochen gut gelaufen, so Evers. "Wir reden ja nicht nur von einer prozentualen Steigerung von 5,5 Prozent ab dem kommenden Jahr, wir reden ja auch von einem Sockelbetrag von 200 Euro, der noch in diesem Jahr greift." Dadurch würden die Gehälter der Erzieher:innen auch in Berlin um mehrere Hundert Euro pro Monat steigen.
Zudem stelle die TDL sicher, dass überall das Prinzip "gleicher Lohn für gleiche Arbeit gilt", so Evers weiter. Das heißt übrigens auch: Der Wettstreit zwischen den Bundesländern um die begehrten Kita-Fachkräfte wird nicht auch noch über unterschiedliche Bezahlung geführt, was vor allem finanziell klamme Länder wie Berlin vor noch größere Probleme stellen würde.
Denn am Kernproblem Personalmangel lässt sich weder kurz- noch mittelfristig viel ändern: Es gibt einfach nicht genug Erzieherinnen und Erzieher. Der aktuelle Kindertagesstätten-Entwicklungsplan prognostiziert, dass im Jahr 2027 genau 31.625 Erzieher:innen benötigt werden, rund 2.500 mehr als in diesem Jahr.
Ein großes Problem sei die hohe Fluktuation, heißt es im Bericht der Bildungsverwaltung. Sie liegt aktuell bei zehn Prozent, weil viele Beschäftigte in Rente gehen oder den Beruf an den Nagel hängen. Allein in diesem Jahr verliert Berlin auf diesem Weg mehr als 2.600 Erzieher:innen. Dazu kommen fast 1.500 Fachkräfte, die zumindest zeitweise ausfallen. Von Fachschulen kommen jedoch nur 1.600 neue Erzieher:innen. Die Lücke müssen extern angeworbene Fachkräfte und vor allem Quereinsteigende füllen.
Gleichzeitig steigt in Berlin die Nachfrage nach Kita-Plätzen weiter an, die Betreuungsquote in allen Altersgruppen unter sieben Jahren wird immer größer. Bis 2027, so die Prognose, besuchen von den Drei- bis Sechsjährigen 96,4 Prozent eine Kita. Zudem werden bis 2027 laut Prognose weitere 2.887 Kitaplätze in Berlin gebraucht. Auch die Ansprüche an die Kitabetreuung werden immer größer: von Sprachförderung bis zu sonderpädagogischen Angebote.
Um kurzfristig mehr Geld ins System zu bringen, damit mehr Personal eingestellt werden kann, diskutiert die Politik längst über eine Maßnahme, die auf wenig Gegenliebe stoßen dürften: die Abschaffung der Beitragsfreiheit. In ihrem Koalitionsvertrag hatten sich CDU und SPD zwar noch dazu bekannt, allerdings vor allem auf Druck der Sozialdemokraten.
Die aber haben inzwischen eine neue Parteispitze: Martin Hikel und Nicola Böcker-Giannini. Beide forderten im parteiinternen Machtkampf das "Ende der Umsonst-Stadt", und meinten damit auch die Beitragsfreiheit der Kitas. Eltern, die es sich leisten könnten, sollten an den Kosten der Betreuung beteiligt werden, so das Argument.
Ähnliche Diskussionen gibt es längst auch über die kostenlose Hortbetreuung, das beitragsfreie Schulessen oder das kostenlose Schülerticket für den ÖPNV. Ob deren Abschaffung jedoch mehr Geld für Kita- und Schulpersonal schafft, steht auf einem anderen Blatt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.07.2024, 6:20 Uhr
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Beitrag von Sebastian Schöbel
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