Sozialpädagogin in Berlin-Wedding
Eine aktuelle Sozialstudie belegt, wie machtlos und unbeachtet sich viele Jugendliche in Deutschland fühlen. Wie sehr, hängt auch vom Sozialstatus der Familien ab. Eine Sozialpädagogin aus dem Berliner Wedding erzählt im Interview aus ihrer Realität.
rbb|24: Frau Alegra, Sie sind Sozialpädagogin in einem Jugendclub im Wedding. Welche Jugendlichen kommen zu Ihnen?
Juli Alegra: Vor allen Dingen Jugendliche, die im Umkreis wohnen. Der Kiez ist mit hoher Arbeitslosigkeit belastet. Somit sind die Kinder häufig auch von Armut bedroht oder betroffen. Der Anteil von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ist sehr hoch bei uns.
Es heißt ja oft, es gehe den Kindern und Jugendlichen seit Corona nicht gut. In welcher Verfassung sind die Jugendlichen, die zu Ihnen kommen?
Dass es den Jugendlichen schlecht geht, ist milde untertrieben. Vielen geht es katastrophal. Das kommt jetzt erst so langsam raus. Während der Coronazeit sind sie vereinsamt und haben den Anschluss verloren. Das versuchen für mein Gefühl einige durch den Konsum von Suchtmitteln zu kompensieren. Entsetzlich hoch ist der Anteil der Jugendlichen, die vapen. Ich kannte das gar nicht und musste mir von Zwölfjährigen erklären lassen, dass das ok sei. Wie kann das sein, dass das Zeug wie Mango-Saft schmeckt?
Viele von unseren Jugendlichen kämpfen außerdem mit Depressionen, Perspektivlosigkeit und Zukunftsängsten.
Was sind die Hauptthemen, die Ihre Jugendlichen beschäftigen?
Tatsächlich die Armut. Sie wollen da raus. Am liebsten wollen die meisten mit schnellem Rap-Business oder auch krummen Geschäften das dicke Geld machen und der Mama eine bessere Zukunft bieten.
Passieren diesen Jugendlichen in der Welt und in ihren Familien gefühlt mehr gute oder schlechte Dinge?
Gefühlt passiert ihnen fast ausschließlich Schlechtes. Mindestens 70 Prozent unserer Jugendlichen fühlen sich regelmäßig ungerecht behandelt. Ihrer Meinung nach läuft da was ganz doll schief. Sie haben ja auch mitbekommen, dass bis vor Kurzem ganz Wedding davon bedroht war, dass die Jugendclubs geschlossen werden sollten. Da geht es um das zweite Zuhause dieser Kids. Da haben sie sich überhaupt nicht gesehen und gehört gefühlt. Positiverweise wurden die Schließungen im letzten Moment noch abgewendet – jetzt stehen aber fürs nächste Jahr Kürzungen an. So haben die Jugendlichen zwar einen Teilerfolg erlebt, aber letzten Endes auch das Gefühl, dass es sich um das Kämpfen gegen Windmühlen handelt.
Es gibt eine neue Studie, die aussagt, dass sich viele Jugendliche am Thema Gerechtigkeit abarbeiten. In welcher Hinsicht fühlen sich Ihrer Erfahrung nach Jugendliche ungerecht behandelt?
Unsere Jugendlichen fühlen sich von der Gesellschaft nicht gesehen, nicht akzeptiert und nicht gehört. Sie fragen sich beispielsweise, warum ohnehin schon reiche Menschen immer mehr verdienen dürfen, sie selbst aber nicht ein wenig Geld hinzuverdienen dürfen, ohne dass es ihren Eltern von den Bezügen gekürzt wird.
Einige unserer Jugendlichen haben einen muslimischen Hintergrund und sind sehr von der derzeitigen Palästina-Situation betroffen. Ganz viele haben es auch als sehr ungerecht empfunden, als der Ukraine-Krieg begonnen hat, dass die hierher Geflüchteten gleich arbeiten gehen durften und sie Bezüge bekamen. Sie fühlen sich davon wenig wertgeschätzt, weil sie ja teilweise sogar in Deutschland geboren sind und für sie und ihre Familien teils nicht dasselbe gilt.
Interessieren sich die Jugendlichen auch für andere marginalisierte Gruppen wie Menschen mit Behinderung oder Obdachlose und die Ungerechtigkeiten, mit denen diese kämpfen?
Sie interessieren sich vor allem für das, was in ihrem Kiez vorkommt. Ein Beispiel: direkt am Jugendclub gibt es einen großen Spielplatz. Dort spielt regelmäßig ein autistisches Kind. Für dieses Kind fühlen sich sämtliche Kinder und Jugendliche verantwortlich. Sobald es in die Nähe einer Tür gerät und die Gefahr entsteht, dass es auf die Straße geraten könnte, sind sie kollektiv im Einsatz. Was ich damit sagen will: Intern ist der Zusammenhalt sehr groß.
Unsere Jugendlichen regen sich beispielsweise über die woken "Regenbogen-Themen" eher auf. Sie finden, dass der Fokus viel zu stark darauf liegt, während sie mit ihren ganzen Themen total unwichtig sind.
Gibt es denn etwas, das die Jugendlichen unternehmen, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen?
Sie versuchen, sich auf ihren Wegen Geld zu verschaffen. Einige verkaufen inzwischen legale und illegale Substanzen. Andere erleichtern Dritte um ihr Geld. Ich bekomme auch mit, dass viele Jugendliche Überfälle auf Spätis machen. Da sind sie der Meinung, dass die gegen solche Verluste versichert sind. Außerdem haben sie ihrer Meinung nach oft "unkorrekte Preise". Eine interessante moralische Vorstellung zeigt auch die Argumentation, dass so ein Überfall durchaus gerechtfertigt sei, wenn ein Späti Zigaretten an Minderjährige verkaufe.
Es ist auch relativ gang und gäbe, dass Jugendliche aus ärmeren Bezirken in Gruppen in Bezirke gehen, wo sie mehr Geld vermuten, und dort die nach Geld aussehenden Jugendlichen abziehen. Sie gehen dann davon aus, dass denen von ihren Eltern dann ein neues Handy gekauft wird.
Haben die Jugendlichen den Eindruck, politisch einwirken zu können? Haben sie beispielsweise gewählt bei der Europawahl?
Die Jugendlichen haben sich gefragt, was sie bei der Europawahl sollen. Sie gingen erstmal davon aus, keine Stimme zu haben und nicht wählen zu dürfen. Wir haben das dann im Jugendclub thematisiert, aber viele fanden trotzdem, dass sie sowieso nichts bewirken würden.
Aber vereinzelt gibt es doch immer wieder Jugendliche, die versuchen sich zu engagieren. Da gibt es immer wieder Lichtmomente. Und die haben dann auch oft eine Vorbildfunktion.
Was müsste für die Jugendlichen, die Sie betreuen, passieren, damit sich etwas bessert?
Wenn mal mehr hinter die Fassaden geschaut würde und nicht immer von oben auf sie herab. Man muss das in der Realität mal sehen: Das Bürgergeld ist nicht wenig Geld an sich. Aber es ist zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben.
Weil sie von ihren Eltern oft sehr wenig mitbekommen, müssten Jugendliche wie unsere meiner Meinung nach schon viel früher im Bildungssystem aufgefangen werden. Gerade in der Schule fühlen sich die Jugendlichen oft über den Tisch gezogen und ungerecht behandelt. Sie berichten oft, dass Lehrer ihre Machtpositionen fies ausüben und sie stereotyp behandeln.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Sabine Priess.
Sendung: rbb24 Inforadio, 02.07.2024, 14 Uhr
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