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Audio: rbb24 Abendschau | 23.08.2024 | Ulli Zelle | Quelle: dpa/Peter Kneffel

Abzug der Alliierten vor 30 Jahren

Die Euphorie des Abschieds

Heute wirkt das naiv, aber: Als 1994 die russischen Truppen Deutschland verlassen, glauben viele, jetzt sei für immer Frieden, erzählt Hans Joachim Jung. Der Militärdolmetscher hatte auch das Abschiedslied der russischen Truppen übersetzt. Von Jonas Waack

Die Orden wackeln an den Uniformen. Tausend russische Soldaten marschieren am Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park im Gleichschritt auf der Stelle, die Gewehre an die Brust gepresst. Der Soldatenchor schmettert: "Deutschland, wir reichen dir die Hand, und kehr’n zurück ins Vaterland." Nur ganz leicht hört man den russischen Akzent heraus – der Chor hat viel geprobt für diesen Anlass.

Es ist der 31. August 1994, die russischen Truppen verabschieden sich aus Deutschland. Vor ihnen stehen Bundeskanzler Helmut Kohl und der russische Präsident Boris Jelzin. Nur wenige Meter dahinter, in der sechsten Reihe, sitzt Oberstleutnant Hans Joachim Jung. Die gute Aussprache des Chors ist auch ihm zu verdanken, vor allem aber hat er das Lied, "Die Heimat ist empfangsbereit", übersetzt.

Militärdolmetscher Hans Joachim Jung | Quelle: privat

Die Bundeswehr übernahm nur wenige NVA-Offiziere

Damals, Anfang der 1990er sah es so aus, als sei der Konflikt zwischen Ost und West vorbei. Zur deutschen Wiedervereinigung 1990 war Jung 49 Jahre alt. 31 davon hatte er bei der Nationalen Volksarmee (NVA) verbracht. Jetzt wurde die Armee der DDR aufgelöst.

Die Bundeswehr übernahm damals nur wenige NVA-Offiziere, Jung musste zum Personalgespräch beim Bundeswehr-Stadtkommandanten in Berlin, Hasso Freiherr von Uslar-Gleichen. "Wer sind Sie, was können Sie, was haben Sie?", habe der gefragt, erzählt Jung. "Und da habe ich ihm erzählt, was ich so gemacht habe und so weiter."

Was er gemacht hat und so weiter: Zum Beispiel jahrzehntelang vom Französischen, Englischen und Russischen ins Deutsche übersetzt – und umgekehrt. Jung war im Dolmetschertross, als der sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow zum 40. Jahrestag die DDR besuchte – und übersetzte auch den Ausspruch von Gorbatschows außenpolitischem Sprecher Gerassimiow, nach dem Treffen zwischen Gorbatschow und dem DDR-Staatschef Honnecker. Den Spruch, der später als das Gorbatschow-Zitat "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" in die Geschichtsbücher einging.

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Annäherung an den ehemaligen Feind

Jungs Qualifikation überzeugte, er wurde nach der Wiedervereinigung von der Bundeswehr übernommen – als Verbindungsoffizier zu den Truppen der vier Siegermächte in Berlin. Die Situation in der Stadt war mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung plötzlich sehr anders. Die Sowjetarmee und die NATO-Truppen waren keine Feinde mehr, aber sie wussten nicht, wie sie miteinander umgehen sollen.

Jung organisierte also Gelegenheiten für die Soldaten und Offiziere, sich kennenzulernen. Er erinnert sich an einen Abend, an dem das russische Gesangs- und Tanzensemble und das Balalaika-Orchester im französischen Quartier spielte - der heutigen Julius-Leber-Kaserne im Wedding. "Der ganze Saal schmiss seine Barrette und Käppis in die Höhe. Die waren nicht mehr einzukriegen."

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Hochprozentige Geschenke

Auch die West-Berliner waren an Kontakten interessiert. Bei einem Empfang wurde Jung von einem Supermarktbesitzer angesprochen, womit der den russischen Soldaten denn eine Freude machen könne. "Da hab ich gesagt, Weihnachten steht vor der Tür, vielleicht kann man den Soldaten ein kleines Geschenkpaket vorbereiten", erzählt Jung. "Aber denkt daran: kein Alkohol!"

Einige Wochen später fuhren sechs Lastwagen mit Geschenkpaketen auf dem Exerzierplatz der russischen Armee in Karlshorst vor, als dort "zweitausend Mann mindestens" beim Appell waren, erinnert sich Jung.

Der Supermarktbesitzer hielt sich offenbar nicht an die Anweisungen Jungs: Später habe er in der Kaserne einen Raum gesehen, "übersät mit leeren Schnapsflaschen!", so Jung.

Quelle: dpa/Peter Kneffel

Die Russen mussten allein marschieren

1994 sollten die ausländischen Truppen endgültig aus Berlin abziehen. Großbritannien, Frankreich und die USA wollten am 18. Juni ein letztes Mal eine Parade auf der Straße des 17. Juni abhalten, am Armed Forces Day, wie sie es während des Kalten Krieges getan hatten.

Auch die Russen wollten mitmarschieren: Kommandant Markow bat darum, mit einem Ehrenzug und dem russischen Orchester teilnehmen zu dürfen. Aber die Stadt lehnte ab mit der Begründung, das Datum der Parade sei zu nah am 17. Juni, dem Jahrestag des Volksaufstands in der DDR 1953, der unter anderem von sowjetischen Truppen niedergeschlagen wurde. "Den Brief mit der Absage habe ich sogar übersetzt", erzählt Jung. "Mein General hat mir später erzählt, die Briten und die Franzosen waren für eine gemeinsame Parade, nur die Amerikaner waren dagegen."

Also mussten die russischen Truppen ihre eigene Parade abhalten, und auch die Verabschiedung fand getrennt statt. "Die Russen waren nicht amused", erinnert sich Jung.

Jung übersetzte das Abschiedslied

Und so kam es zu der Parade am sowjetischen Ehrenmal. Die russische Militärführung ließ eigens ein Lied für den Anlass komponieren. Den Text schrieb der ukrainische Sänger Wladimir Sarkow, die Melodie kam von Gennadi Lushezki, dem künstlerischen Leiter des Gesangs- und Tanzensembles der russischen Truppen in Deutschland.

Lushezki und Jung kannten sich, und so bekam Jung den Auftrag, einen Teil des Liedes zu übersetzen. "Dichten war immer schon mein Hobby", sagt er, "aber Nachdichten ist natürlich etwas anderes. Man muss sich dicht ans Original halten, und im besten Fall reimt es sich auch noch."

Die Heimat ist empfangsbereit

„Wir verlassen nun für immer deutsche Erde,
Denn der Kriegsherd, der ist ja schon lange aus.
In der Hoffnung, dass nun ewig Friede währe,
Rollen Panzer und Geschütze jetzt nach Haus.
Wir ziehen ab, doch uns’re Lieder werden bleiben,
Uns erinnern noch an manche gute Tat.
Mutter Heimats Freude ist kaum zu beschreiben,
dass nun heimkehrt ihr russischer Soldat.

Deutschland, wir reichen dir die Hand
Und kehr’n zurück ins Vaterland.
Die Heimat ist empfangsbereit.
Wir bleiben Freunde allezeit.
Auf Frieden, Freundschaft und Vertrauen
Sollten wir uns’re Zukunft bauen.
Die Pflicht erfüllt! Leb wohl, Berlin!
Uns’re Herzen heimwärts ziehen.“

Nach dem Abzug der Siegermächte blieb Jung noch einige Jahre bei der Bundeswehr, zuerst als Verbindungsoffizier, später als Pressesprecher. Heute ist er längst im Ruhestand und führt Besucher durch das deutsch-russische Museum Karlshorst und über den Invalidenfriedhof. Und er nimmt auch an Podiumsdiskussionen zum Abzug der Alliierten teil.

Damals, 1994, sei er gerührt und hoffnungsvoll gewesen, erinnert sich der 83-Jährige. "Wir haben gedacht, dass nach dem Abzug der große Frieden ausbricht. Das ist leider nicht eingetroffen."

Sendung: rbb24 Abendschau, 31.08.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Jonas Waack

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