Ab September
Jedes Jahr nehmen Berliner Behörden Tausende Kinder und Jugendliche in Obhut. Meist, weil sie in ihren Familien misshandelt werden. Viele kommen in Heime, denn es gibt zu wenige Pflegefamilien. Das will der Senat nun ändern. Von Thorsten Gabriel
Berlins Jugend- und Familiensenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) spricht von einem "Herzensanliegen". Seit Jahren ist die Zahl von Familien oder Singles rückläufig, die bereit sind, Pflegekinder bei sich aufzunehmen. Das allerdings liegt nicht daran, dass sie es nicht tun wollten, sondern an den Rahmenbedingungen. Vor allem finanziell sind die Hürden für potenzielle Pflegefamilien hoch.
Deshalb waren von den 8.362 Kindern, die im vergangenen Jahr außerhalb ihrer eigenen Familien untergebracht waren, nur 1.979 in Pflegefamilien versorgt. Jahr für Jahr waren es zuletzt um die 2.000 Kinder und Jugendliche, die von Jugendämtern und Kindernotdienst in Obhut genommen wurden. Etliche kehren zwar nach kurzer Zeit wieder in ihre Familien zurück. Für die anderen werden Pflegefamilien gesucht, doch nur für eine Minderheit wird diese Perspektive Wirklichkeit.
"Bei Pflegekindern reden wir in der Regel über Kinder und Jugendliche, die traumatische Erfahrungen gemacht haben", sagt die Jugend- und Familiensenatorin. "Man wird nicht ohne Grund aus seiner Familie herausgenommen und braucht dann dauerhaft eine andere Unterbringung." Natürlich gebe es nach wie vor die Möglichkeit, betroffene Kinder und Jugendliche "stationär", also in Heimen, unterzubringen. "Aber ich glaube, dass es für die Kinder und Jugendlichen immer zielführender ist, wenn wir sie in Pflegefamilien behütet unterkommen lassen, damit sie dann wirklich auch eine zweite Chance bekommen."
Von Pflegepersonen wird erwartet, dass sie im ersten Jahr von ihrem Beruf pausieren, um sich ganz auf das Pflegekind zu fokussieren und eine Bindung aufzubauen. Anders als Adoptiveltern haben Pflegeeltern bislang allerdings keinen Anspruch auf Elterngeld. Damit ist es im Regelfall nur finanziell sehr gut situierten Familien möglich, Pflegekinder aufzunehmen. Dazu kommt, dass die monatlichen Beiträge, die das Land Pflegefamilien für Lebensunterhalt und Erziehung zahlt, seit 2012 nicht angehoben wurden.
Beides will der Senat nun korrigieren. "Ab nächster Woche werden Pflegefamilien eine deutliche Verbesserung spüren", verspricht die Senatorin am Donnerstag. In einem ersten Schritt werden dann nämlich die Pauschalbeiträge für Lebensunterhalt, Pflege und Erziehung deutlich angehoben.
Bekommen Eltern derzeit beispielsweise bei Pflegekindern im Alter zwischen null und sieben Jahren monatlich 747,97 Euro, so werden es ab 1. September 1.023 Euro sein. Die Pflegefamilien seien Mitte August bereits schriftlich darüber informiert worden, wie viel sie konkret monatlich mehr erhalten werden, so Günther-Wünsch.
Ab 1. Januar 2025 startet Berlin dann ein Modellprojekt, bei der neue Pflegepersonen für zwölf Monate eine Art "Elterngeld" erhalten sollen, um ihren Einkommensausfall zumindest anteilig kompensieren. Es wird kein Elterngeld im eigentlichen Sinn und deshalb auch nicht vom Einkommen abhängig sein. Gezahlt würden 924 Euro, das sei die durchschnittliche Höhe des gezahlten Elterngelds, erläutert die Senatorin.
Im Rahmen des Modellprojekts werde es jedem Bezirk ermöglicht, bis zu zehn neue Pflegefamilien auf diese Weise zu fördern. Beides, die erhöhten monatlichen Pauschalbeiträge sowie das Modellprojekt, seien im Doppelhaushalt für dieses und das kommende Jahr mit zusammen neun Millionen Euro abgesichert und stünden auch nicht in der Gefahr, am Ende eingespart zu werden, versichert die CDU-Politikerin.
Neben den finanziellen Verbesserungen stellt der Senat aber auch weitere Verbesserungen für Pflegefamilien in Aussicht. Unter anderem wünschten sich viele Pflegeeltern Supervision, die nun auch verstärkt angeboten werden solle, so der zuständige Jugend- und Familien-Staatssekretär Falko Liecke (CDU). Zudem sollen die behördlichen Zuständigkeiten für Pflegeeltern vereinfacht werden. Um das enorme Engagement von Pflegepersonen mehr wertzuschätzen und zu würdigen, soll es außerdem künftig zentrale Begrüßungs-, Jubiläums- und Abschiedsveranstaltungen geben.
Nicht zuletzt geht es aber laut Liecke und Günther-Wünsch auch darum, Pflegefamilien besser psycho-sozial zu unterstützen. Als Beispiel verwiesen beide auf "Alegria", das Institut für Zirkustherapie, das eng mit dem Kinderzirkus Cabuwazi verbunden ist. Viele Kinder kämen mit Diagnosen wie ADHS, Fetalen Alkoholspektrumsstörungen (FASD) oder Angststörungen.
"Bei uns können sie ihre emotionalen Belastungen abbauen und positive Erfahrungen sammeln", sagt Institutsleiterin Britta Niehaus. In Zukunft solle ein besonderer Schwerpunkt darauf gelegt werden, Pflegekinder und ihre Familien zu unterstützen. Laut Staatssekretär Liecke wird das Projekt vom Senat mit 210.000 Euro pro Jahr unterstützt.
Im Abgeordnetenhaus stoßen die von Jugend- und Familiensenatorin angestoßenen Reformen quer durch die Fraktionen auf einhellige Zustimmung. So sagt etwa die jugend- und familienpolitische Sprecherin der Grünen, Marianne Burkert-Eulitz, sie sei froh, dass die Senatorin das Thema als Priorität für ihre Arbeit gesetzt habe. "Man muss da politisch nicht immer weit auseinander sein. Hier in diesem Fall bin ich froh, dass die CDU-Senatorin ihre Versprechen umsetzt." Im Parlament hatte es in den vergangenen Monaten immer wieder Anträge und Anhörungen gegeben, die die schwierige Lage vieler Pflegefamilien deutlich machten.
Sendung: rbb24 Abendschau, 29.08.2024, 19.30 Uhr
Beitrag von Thorsten Gabriel
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