Demokratische Teilhabe
Zufällig ausgeloste Bürger, die als Rat politisch mitbestimmen dürfen: Diese Idee soll helfen, um Menschen wieder für Demokratie zu begeistern. Marzahn-Hellersdorf will Bürgerräte testen, andere Bezirke haben sie bereits. Von Tobias Schmutzler
Der Kastanienboulevard in Hellersdorf hat bessere Tage gesehen. Die Zeiten als Flaniermeile mit Geschäften und Cafés liegen lange zurück. Stattdessen ist die frühere Einkaufsstraße heute von Leerstand und Tristesse geprägt. Für den Sozialwissenschaftler Raiko Hannemann steht diese Entwicklung symbolisch dafür, dass auch die Demokratie im Kiez einen schweren Stand habe: "In Marzahn-Hellersdorf fehlen die Orte, wo Menschen sich begegnen können – auch um sich im Gespräch eine Meinung bilden zu können, etwa zur politischen Willensbildung."
Eine Zahl der letzten Europawahl gibt ihm recht: 75 Prozent Nichtwähler verzeichnete das nächstgelegene Wahllokal im Juni 2024. Raiko Hannemann glaubt deshalb, es braucht neue Ideen, um die Demokratie vor Ort wieder zu stärken. Er fordert mit Mitstreitern in einer Initiative einen Bürgerrat für Marzahn-Hellersdorf. "Wir wollen, dass sich Menschen, die in prekären Verhältnissen leben oder nicht viel Einkommen haben und sich aus der Politik und aus Wahlen zurückgezogen haben, wieder angesprochen fühlen." Außerdem will die Initiative Menschen ansprechen, die durchaus politisch interessiert und engagiert sind, aber von negativen Erfahrungen mit Behörden und Bürokratie frustriert sind.
Konkret soll der Bürgerrat, den die Initiative fordert, so funktionieren: 1.000 Einwohnerinnen und Einwohner werden, auf Basis von Daten des Einwohnermeldeamts, zufällig ausgelost per Brief angeschrieben und aufgefordert, sich für den Bürgerrat zu melden. Wer auf den Brief nicht reagiert, kann sogar persönlich von Ehrenamtlichen zu Hause aufgesucht werden – nicht als Drohung, sondern als freundliches Angebot, in Kontakt zu treten, wie Raiko Hannemann betont. Damit wolle die Initiative diejenigen persönlich ansprechen, die sich von der Politik ernsthaft abgewandt haben.
Zudem sollen Barrierefreiheit vor Ort und sogar ein Angebot zur Kinderbetreuung dafür sorgen, dass auch Menschen am Bürgerrat teilnehmen können, für die politische Aktivitäten sonst nicht mehr in Frage kommen. Am Ende könnten etwa 50 bis 60 Menschen im Bürgerrat sitzen, unterstützt von vielen Ehrenamtlichen, erklärt Hannemann. Aus seiner Sicht soll sich die Bezirksverordnetenversammlung selbst verpflichten, über die Empfehlungen, die der Bürgerrat erarbeitet, abzustimmen.
Bürgerräte gab es in Deutschland schon einige:
Bürgerräte werden meist von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern begleitet, die den Mitgliedern des Rats beratend zur Seite stehen. Befürworter halten sie für ein sinnvolles Instrument der politischen Teilhabe. Dagegen finden Kritiker, Bürgerräte seien nicht geeignet, Politikverdrossenheit effektiv zu bekämpfen. Typische Vorwürfe reichen von "Mitmachtheater" bis zu "Politiksimulation". Solche grundsätzlichen Bedenken teilt die Politikwissenschaftlerin Miriam Hartlapp von der Freien Universität Berlin nicht. Aber sie sagt, Bürgerräte seien bisher nicht ausreichend in das politische System eingebettet. Aus ihrer Sicht braucht es konkretere, nachvollziehbare und transparente Regeln.
Für Miriam Hartlapp ist zudem entscheidend, was nach einem Bürgerrat passiert. Die politisch Verantwortlichen, an die sich Empfehlungen eines Bürgerrats richten, müssten sich ernsthaft und verbindlich mit den Ergebnissen auseinandersetzen, sagt die Forscherin: "Wenn Abgeordnete Vorschläge nicht übernehmen, sollten sie den Bürgern erklären müssen, warum." Würde die Arbeit des Gremiums dagegen im Nachhinein nicht ernst genommen, könnte das Vorhaben nach hinten losgehen, so Hartlapp: "Ein Bürgerrat kann Politikverdrossenheit abbauen und eine positive Demokratieerfahrung für Teilnehmer und Beobachter haben. Doch wenn nichts Konkretes folgt, können Bürgerinnen und Bürger hinterher auch umso enttäuschter sein."
Auch in einigen Berliner Bezirken gab und gibt es Bürgerräte. In Charlottenburg-Wilmersdorf, auf der Mierendorffinsel, tagt schon der zweite sogenannte "Insel-Rat". Der erste konnte von 2021 bis 2022 mitbestimmen, wie der fünf Kilometer lange Insel-Rundweg gestaltet wird. Aktuell laufen die Bauarbeiten für den neuen "Treffpunkt Goslarer Ufer". Auf dem früheren Grillplatz, der ein großes Müllproblem hatte, entstehen jetzt ein Kletter- und Skatepark und eine Kultur- und Lesebühne.
"Der 'Insel-Rat' hat sich über zwei Jahre insgesamt sechs Mal getroffen – immer an Samstagen", erklärt Andrea Isermann-Kühn, Geschäftsführerin des Vereins "DorfwerkStadt". "Dabei waren immer das beauftragte Planungsbüro dabei, zusätzlich Mitarbeiter des Bezirksamts." In Workshops habe man gemeinsam Ideen erarbeitet. Mittlerweile beschäftigt sich der zweite "Insel-Rat" mit der schwierigen Verkehrssituation aufgrund des Durchgangsverkehrs, zum Beispiel am Mierendorffplatz. Auch hier wird der Bürgerrat konkrete Vorschläge für Verbesserungen machen.
In Tempelhof-Schöneberg lief 2019 und 2020 ein Pilotprojekt für Bürgerräte, wurde dann aber nicht fortgeführt. Nun hat im April 2024 die Bezirksverordnetenversammlung den Beschluss gefasst, erneut Bürgerräte einzurichten. Bis zur Umsetzung dürfte es aber noch dauern. In seiner Reaktion auf den Beschluss schrieb Bezirksbürgermeister Jörn Oltmann (Grüne), die personellen und organisatorischen Voraussetzungen im Bezirksamt seien aktuell nicht vorhanden. Daher müsse das Beteiligungsformat "auf einen späteren Zeitpunkt" verschoben werden.
Für Raiko Hannemann und seine Mitstreiter zahlen sich die zwei Jahre Arbeit in ihrer Initiative dagegen bald aus: Sie haben die Zusage der Bezirksbürgermeisterin Nadja Zivkovic (CDU) für einen Pilot-Bürgerrat in Marzahn-Hellersdorf. Zu welcher konkreten Frage, ist noch unklar – aber das Ziel steht für Hannemann fest: "Wir wollen, dass all diese Milieus, die sich aktuell gar nicht mehr begegnen, sich wieder an einem Verhandlungstisch austauschen." Der erste Bürgerrat in Marzahn-Hellersdorf startet im nächsten Jahr, hofft Hannemann. Und es wird nicht der letzte sein, wenn es nach seiner Initiative geht.
Sendung: rbb24 Inforadio, 25.08.2024, 13:15 Uhr
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Beitrag von Tobias Schmutzler
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