Berlin-Tegel
Haufenweise Müll, offene Drogenszene, Feuer am Kanalufer: Im Schatten der Flüchtlingsunterkunft auf dem Ex-Flughafen Tegel herrschen unerträgliche Zustände. Die Verwahrlosung konnte aus einem Zuständigkeitsdilemma erwachsen. Von Olaf Sundermeyer
Seit 20 Jahren pflegen die Ibischs ihren Kleingarten in der "Kolonie vor den Toren 1". Sie lieben ihr Idyll am Berlin-Spandauer Schifffahrtskanal unter der ehemaligen Flughafenbrücke Tegel. Zwischen dem Ufer und ihrem Maschendrahtzaun zieht sich der Fernradweg Berlin-Kopenhagen.
Drei Jahre lang ist Klaus Ibisch nun in Rente, konnte den Garten aber nur noch bedingt genießen. Seit vor zwei Jahren Deutschlands größte Flüchtlingsunterkunft auf dem ehemaligen Flughafengelände entstanden ist, sieht er Risse im Idyll. "Das Schlimmste ist diese Vermüllung, das ist ja ganz extrem." Und er fürchtet, dass das Problem noch größer wird. Weil lange Zeit niemand wirksam etwas dagegen unternommen hat.
4.787 Bewohner weist das Landesamt für Flüchtlinge (LAF) für die Unterkunft in Tegel für Ende des vergangenen Monats aus, darunter die meisten aus der Ukraine (3.905). Die übrigen Menschen kommen aus Afghanistan, der Türkei, Syrien, Vietnam und Moldau.
Tegel gilt heute als die größte Flüchtlingsunterkunft Deutschlands. Einige ihrer Bewohner belagern im Sommer das Kanalufer unter der "General-Ganeval-Brücke", der Zufahrt zu ihrem übergangsweisen Zuhause. Klaus Ibisch schätzt ihre Zahl auf 100. Wie er hat auch seine Ehefrau Ilona Verständnis für Menschen, die aus kriegsgebeutelten Ländern nach Berlin kommen. Aber sie fühlt sich wegen des massiven Drogenkonsums am Ufer und vor den offenen Feuern bedroht.
Wer am Ufer entlang streift, entdeckt zahlreiche Feuerstellen, verkohltes Holz, auch eine offene Feuerstelle, aus der eine riesige Rauchsäule durch die Uferböschung dringt. Überall liegt Müll herum, zentnerweise, Drogenbestecke, zerrupfte Bäume und Büsche, die zu Brennholz wurden. "Ich habe Angst, dass wir hier mal abfackeln", sagt Ibisch.
Nachbar Manfred Skibbe fasst das Gefühl der Kleingärtner am Ufer zusammen, dem sich weitere Nachbarn anschließen: "Wenn ich in ein fremdes Land komme, erkunde ich mich zunächst, wie ich mich da verhalten muss", sagt er. "Das Gefühl habe ich aber mit vielen Leuten hier überhaupt nicht. Die benehmen sich wie die Axt im Walde."
Vor seiner Laube sind Autowracks abgestellt, die auf ihre kostenpflichtige Entsorgung warten, mit ukrainischen und polnischen Kennzeichen. Deren Zuordnung läuft ins Leere, ist beim Bezirk Reinickendorf zu hören. Halter können nicht festgestellt werden. Wahrscheinlich sind die Kennzeichen gestohlen.
Die Kleingärtner beobachten zusätzlich Sex in abgedunkelten Fahrzeugen. Der Verdacht der illegalen Prostitution liegt über dem Kanalufer. Auch Mitglieder eines benachbarten Hundesportvereins sind empört, sorgen sich um ihre jugendlichen Mitglieder.
Am Ufer gegenüber teilt Cevdet Ketenci die Sorgen. Er betreibt die Strandbar "Berlista", blickt jetzt auf eine ansteigende Rauchsäule am Ufer, wo gerade eine offene Feuerstelle lodert. Vor 40 Jahren kam er selbst aus dem kurdischen Teil der Türkei nach Berlin, hat Verständnis für Menschen auf der Flucht. Aber nicht für das Verhalten am Kanalufer.
"Ich weiß nicht, woher sich die Menschen dieses Recht nehmen, oder wie sie sich so wohlfühlen, in diesem ganzen Müll noch zu grillen", sagt er. "Und wenn sie fertig sind, schmeißen sie einfach den ganzen Müll auf die Seite."
Ketenci berichtet von zehn Einbrüchen in seine Bar, seit die Flüchtlingsunterkunft da ist, sein Werkzeug sei gestohlen worden, Alkohol in Flaschen. Die Täter vermutet er unter den Flüchtlingen am Ufer. Beweise dafür hat er nicht. Seine Strafanzeigen seien eingestellt worden.
Seit Monaten beobachtet er von hier einen schwunghaften Drogenhandel am Kanal. Er sei bereits gegen Leute eingeschritten, die in seiner Bar mit Drogen handeln wollten. Spuren von Drogenkonsum finden sich an diesem Uferabschnitt aller Orten. Ketenci will hier schon Augenzeuge gewalttätiger Auseinandersetzungen gewesen sein.
Und die Politik? In der vergangenen Woche traf sich die Integrationssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) zu einem Arbeitstreffen mit den Bezirksbürgermeisterin auf dem abgesperrten Gelände der Flüchtlingsunterkunft Tegel. Längst liegen zahlreiche Beschwerden bei den Bezirksämtern, aber die Verwahrlosung am Ufer hat die Senatorin zu dieser Gelegenheit nicht zum Thema gemacht.
Auf rbb-Anfrage verweist ihr Sprecher an das zuständige Landesamt für Flüchtlinge (LAF). Von dort heißt es, dass man eine "Zuständigkeit für das öffentliche Straßenland" nicht erkennen könne. Auf rbb-Anfrage teilt man schriftlich mit: Drogenkonsumenten unter den Bewohnern könnten sich dort an Sozialarbeiter wenden, unerlaubtes Grillen finde in Berlin überall statt. Ebenso das unerlaubte Abladen von Müll.
Die Reinickendorfer Ordnungsstadträtin Julia Schrod-Thiel (CDU) war bei dem Arbeitstreffen mit der Integrationssenatorin mit dabei. Auf Hinweis einzelner Kleingärtner hatte sie zuvor das Kanalufer in Augenschein genommen. Sie schickt jetzt regelmäßig Mitarbeiter ihres Grünflächenamtes, um hier Müll zu beseitigen.
Aber die Möglichkeiten ihres Bezirks allein seien begrenzt. Die Einsätze der herbeigerufenen Polizei liefen mangels ahndungsfähiger Straftaten ins Leere, und für Streifen ihres Ordnungsamtes habe sie nicht ausreichend Personal.
Zumal hier am Ufer die Grenzen von drei Bezirken aufeinanderstoßen: Auf der einen Seite geht Reinickendorf in Mitte über, am anderen Ufer ist Charlottenburg-Wilmersdorf zuständig. Dort häuft sich am meisten Müll. Am Straßenrand des Saatwinkler Damms stehen weitere Wracks.
So wächst der Zustand der Verwahrlosung im Vakuum fehlender Zuständigkeiten weiter an. Die Lage ist kompliziert: "Insofern gibt es da ganz viele Zuständigkeiten und ich verstehe jeden, der sagt, ich verstehe es nicht, ich will es aber auch nicht verstehen und möchte, dass es hier eine Lösung gibt", so Schrod-Thiel.
Nachdem der Zustand der Verwahrlosung im Schatten von Deutschlands größter Flüchtlingsunterkunft nun öffentlich wurde, kamen am Mittwoch dieser Woche Senatskanzlei, betroffene Bezirke und LAF am Kanalufer zusammen.
Ab sofort sollen Parkläufer und die Berliner Stadtreinigungsbetriebe (BSR) im Einsatz sein. Ordnungsamt und Polizei sollen die Flüchtlinge am Ufer bei Regelverstößen direkt ansprechen. "Aber geändert hat sich hier bislang noch nichts", sagt Kleingärtner Klaus Ibisch.
Sendung: Abendschau, 02.08.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Olaf Sundermeyer
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