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Rechtsextreme Dominanz auf Social Media
Die AfD bespielt die Videoplattform Tiktok deutlich erfolgreicher als alle anderen Parteien. Extreme und polarisierende Inhalte dominieren die Plattform. Progressive Kräfte wollen Tiktok "zurückerobern". Kann das funktionieren? Von Jonas Wintermantel
"Lust, mal wieder was auseinanderzunehmen? Ich auch!", sagt Nico direkt in die Kamera. Dann legt er los. Als "N1cosch" nimmt er sich auf Tiktok Verschwörungserzählungen und rechtsextreme Inhalte in Videos anderer Nutzer vor und entkräftet sie Schritt für Schritt - mal in zwei, mal in 10 Minuten. "Das ist meine Erdung und so komme ich auf andere Gedanken", sagt der 42-Jährige aus Nauen im Havelland. "Ich kann meine Klappe nicht halten, wenn Quatsch erzählt wird."
Angefangen hat Nico auf Facebook - damals noch in Schriftform - als rechte und rechtsextreme Inhalte mit der ersten sogenannten "Flüchtlingskrise" an Fahrt aufnehmen. Auf dem Höhepunkt der Corona-Krise mitsamt Verschwörungs-Hochkonjunktur wechselt er Anfang 2021 zu Tiktok. "N1cosch" ist in Brandenburg einer der wenigen politischen Influencer, die mit progressiven Inhalten einigermaßen große Reichweiten erzeugen. Auf Tiktok folgen ihm über 60.000 Menschen, insgesamt haben seine Videos 1,2 Millionen Likes erhalten.
Wer auf Tiktok nach politischen Inhalten mit Bezug zur Brandenburger Landtagswahl sucht, dessen Startseite wird schnell mit rechten und rechtsextremen Inhalten geflutet. Sehr anschaulich hat das vor kurzem die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" in einem Selbstversuch [faz.net] mit einem neu angelegten Tiktok-Profil gezeigt.
Um junge Menschen zu erreichen, setzen Rechtsextreme dabei auf ganz unterschiedliche Strategien, wie Forschende der Universität Erfurt für die Bundeszentrale für Politische Bildung [bpd.de] analysiert haben. Die Formate reichen von Videos, die Gefühle von Heimatverbundenheit erzeugen sollen, über Memes und lustige Videos bis hin zu "Erklärvideos", die mit seriösem Anstrich etwa Desinformation oder rassistische Narrative verbreiten.
Tiktok funktioniert durch einen Algorithmus, der Nutzerverhalten analysiert und personalisierte Inhalte über den "For You"-Feed bereitstellt. Dieser Algorithmus priorisiert Videos mit hoher Interaktion, unabhängig von der politischen Ausrichtung. Rechte Inhalte verbreiten sich oft rasch, da sie polarisieren und starke Reaktionen auslösen.
Provokative Meinungen, einfache Botschaften und emotionale Themen begünstigen den Erfolg dieser Inhalte. Die AfD hat als eine der ersten Parteien das Potenziel der Plattform entdeckt und sie seither flächendeckend bespielt. Dabei geht Quantität oft vor Qualität. Zugute kommt der Partei auch eine Art "digitales Vorfeld", also eine Vielzahl an Accounts, die ihre Inhalte weiterverbreiten und damit den Algorithmus weiter füttern.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie der Universität Potsdam belegt den Eindruck, den ein paar Minuten auf Tiktok hinterlassen. Demnach war die AfD auf Tiktok bei den Erstwählerinnen und Erstwählern doppelt so erfolgreich wie alle anderen Parteien zusammen. Pro Woche würden dieser jungen Wählergruppe neun Videos ausgespielt, die AfD-Inhalte thematisierten. Danach kommt lange nichts - auf Platz zwei liegen demnach die CDU und das BSW mit einem Video pro Woche. Untersucht wurden die Hashtags, die mit den Parteien in Verbindung gebracht werden, wie etwa #AfD.
Studienkoordinator Roland Verwiebe nannte die Ergebnisse alarmierend. "Sie zeigen, wie die AfD - die in Thüringen als gesichert rechtsradikal gilt - es relativ einfach schaffen kann, junge Menschen zu erreichen, die kein starkes Interesse an Politik auf Tiktok angeben und sich auch nicht explizit für bestimmte Parteien interessieren." Für Verwiebe sei klar, dass "der generische Content, der vom Tiktok-Algorithmus ausgespielt wird, andere Parteien benachteiligt, die zum moderaten Spektrum zählen."
Die etablierten Parteien hinken der AfD auf Tiktok hinterher. rbb|24 hat bei den vor der vergangenen Landtagswahl im Landtag vertretenen Parteien nachgefragt, wie sie sich die schlechte Performance ihrer Inhalte auf der Plattform erklären und wie sie in Zukunft damit umgehen wollen.
Die SPD in Brandenburg etwa hat im Landtagswahlkampf keinen eigenen Tiktok-Kanal bespielt. Ein "Kaltstart" sei dort nicht möglich, sagt ihr Generalsekretär Dabid Kolesnyk. "Über Instagram und Facebook erreichen wir zudem alle wahlberechtigten Altersgruppen. Ebenso über andere Formate, die genutzt wurden und außerhalb sozialer Medien relevant sind."
Kolesnyk sieht die Verantwortung zur Präsenz seiner Partei auf Tiktok vor allem bei den Bundesparteien. Die Plattformen seien nicht auf ein Bundesland begrenzt - außerdem seien dort vor allem überregionale Themen wichtig. "Kleine Landesverbände, wie wir in Brandenburg, werden die Situation nicht verändern können. Generell braucht es bessere Lösungen gegen die Verbreitung von Fake-News und Hass auf diesen Plattformen."
Der CDU-Landesverband Brandenburg hat zwar einen eigenen Account, dem folgen aber gerade einmal 782 Menschen. Zum Vergleich: Dem Account der AfD Brandenburg folgen über 40.000 Menschen. "Uns ist es wichtig, dort zu sein, wo die Brandenburger sind. Also auch im Internet und auf Tiktok", sagt CDU-Generalsekretär Gordon Hofmann.
"Gleichzeitig sehen wir, dass insbesondere die AfD eine wesentlich größere Reichweite hat. Einer der Gründe dafür: Als demokratische Partei spitzen wir weniger zu als Populisten und Extremisten. Außerdem werden populistische Inhalte von den Algorithmen gepusht." Die CDU Brandenburg wolle Tiktok trotzdem weiter nutzen, um ihre Inhalte zu verbreiten - etwa, indem aktuelle Trends auf der Plattform aufgegriffen würden.
Tiktok löst mit seinem undurchsichtigen Algorithmus bei vielen der etablierten Parteien zurecht Unbehagen aus. Auch funktioniert hier die Logik bisheriger politischer Öffentlichkeitsarbeit nicht mehr - etwa in Form aufwändig produzierter Wahlwerbespots. Der AfD gelingt etwas, das die anderen Parteien bisher nicht schaffen: politische Kommunikation auf Augehöhe.
"Lange Zeit gab es eine Diskussion darüber, ob man überhaupt auf Tiktok gehen darf - die war ein bisschen aus der Zeit gefallen. Denn 25 Millionen Nutzerinnen in Deutschland hatten diese Frage für sich schon beantwortet und gesagt: Natürlich sind wir auf Tiktok. Die einzigen, die das dann auch politisch bespielt haben, waren eben Rechtsextreme", sagt Magdalena Hess.
Hess ist Aktivistin bei Fridays for Future und Initiatorin der Kampagne "#reclaimtiktok". Der Hashtag existiert seit März dieses Jahres und entstand im Vorfeld der Europawahlen. Zehntausende Menschen haben seither unter dem Hashtag Videos auf Tiktok gepostet und damit 190 Millionen Ansichten erreicht.
"Die Idee ist, dass man Tiktok als wichtige Diskursplattform nicht rechtsextremen Kräften überlässt. Rechtsextreme Inhalte waren auf Tiktok lange Zeit fast die einzigen politischen Inhalte. Unser Ziel war es, demokratische Kräfte zu ermuntern, sich dort einzubringen und über andere Themen zu sprechen."
Die Videos unter #reclaimtiktok setzen bewusst eigene Themen, anstatt sich auf rechte oder rechtsextreme Inhalte auf der Plattform zu beziehen. Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit, das 49-Euro-Ticket oder die Rechte queerer Menschen sind nur einige Beispiele - und auch die Formate können ganz unterschiedlich aussehen. Hess erwähnt ein Video, in dem ein Anwalt minutenlang die Verfassungstreue der AfD behandelt. "Unglaublich trocken aber unglaublich informativ." Das Video ging viral - auch das funktioniert auf Tiktok.
Wichtig ist es Hess zu betonen, dass #reclaimtiktok gerade nicht die Strategie der Rechtsextremen - in Form von Überspitzung, Falsch- und Desinformation - übernehmen wolle: "Eine Art Gegenpopulismus ist nicht unser Ziel. Im Gegenteil. Wir wollen die Art von differenziertem demokratischen Diskurs - soweit eben möglich - auf TikTok bringen und auch Dinge anders und konstruktiver machen."
Fraglich bleibt natürlich, inwiefern eine Initiative wie #reclaimtiktok auf einer Plattform Erfolg haben kann, dessen Algorithmus Filterblasen erschafft und zementiert. Können so überhaupt Menschen erreicht werden, die mit extremen oder antidemokratischen Positionen sympathisieren?
"Das kriegt man nicht in ein paar Monaten mit ehrenamtlichen Strukturen weggedrängt", so Magdalena Hess. "Ich würde trotzdem sagen, dass es möglich ist, eine Gegenöffentlichkeit aufzubauen. Wir haben auch in den letzten Monaten schon große Effekte bemerkt. Das Klima auf der Plattform - gerade auch in den Kommentarspalten - ist deutlich besser geworden. Wenn jemand Hass abbekommt, dann gibt es auch mehr Gegenreaktionen."
Bei der Landtagswahl in Brandenburg wurde die AfD in der Gruppe der 16- bis 24-Jährigen mit 31 Prozent stärkste Partei - mit Abstand. Wie groß der Einfluss sozialer Netzwerke im Allgemeinen und Tiktok im Besonderen ist, lässt sich bisher nur sehr schwer statistisch abbilden.
"Wir können in der Forschung bisher noch keinen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Tiktok-Präsenz und Wahlverhalten statistisch valide beweisen", sagt Nina Kolleck, Professorin für Erziehungs- und Sozialisationstheorie an der Universität Potsdam. Im rbb24-Interview spricht sie über die Ursachen für die Radikalisierung von Jugendlichen. Die sieht sie vor allem in den vielen Krisen, von denen junge Menschen stark betroffen seien.
"Ich denke, dass Tiktok zu den Haupteinflussquellen gehört und auch sehr stark erklären kann, warum es diesen Rechtsruck in der jungen Generation gibt. Das sehen wir auch daran, dass wir in repräsentativen Studien die jungen Menschen immer wieder danach befragen, woher sie ihre Informationen beziehen. Und da gilt Tiktok doch mittlerweile als Hauptinformationsquelle, wenn es um politische Informationen geht."
Tiktok liefere dabei eine Bühne für Verschwörungserzählungen, für Missinformationen und auch für Erzählungen, die das Vertrauen in die Demokratie ganz gezielt untergraben. Kolleck plädiert daher für eine Stärkung der Demokratiebildung und der Medienkompetenz. Die müsse nicht nur in den Schulen, sondern gerade auch in den informellen Lernorten stattfinden, zu denen die sozialen Medien gehörten.
"Initiativen wie #reclaimtiktok sind enorm wichtig. Wir müssen diese Kanäle unbedingt nutzen, weil das die einzige Möglichkeit ist, an den Großteil der jungen Menschen heranzukommen. Gerade auch, weil die Schule in der politischen Bildung nicht gerade geglänzt hat und nicht zu einer politischen Mündigkeit geführt hat", so Kolleck.
Auch der Brandenburger TikToker "N1cosch" hat schon unter #reclaimtiktok gepostet und unterstützt das Vorhaben. Auch, wenn er die Erfolgaussichten bisher als eher begrenzt ansieht. "So ein Hashtag ist ein Ansatzpunkt. Aber wenn da keine Organisation hintersteht wird es schwierig. Man müsste mit Unmengen an Creatorn gleichzeitig sehr viele Inhalte produzieren, um #reclaimtiktok in die Masse zu bringen - vergleichbar mit den Gegen-Rechts-Demos Anfang des Jahres."
Nach drei Jahren als politischer Influencer auf Tiktok klingt N1cosch pessimistisch - auch, wenn er seinen Humor nicht verloren hat. Trotzdem will er weitermachen. "Der Populismus hat gesiegt", sagt Nico, "aber das heißt ja nicht, dass es nicht noch Menschen gibt, die Sicherheit wollen. Wenn ich am Ende als Letzter das Licht ausmache, ist mir das auch egal - ich werde meine Klappe nicht halten."
Beitrag von Jonas Wintermantel
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