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Video: ARD Mediathek | 07.10.2024 | Christian Walther | Quelle: dpa/Wolf

Entdeckung im ARD-Archiv

Filmaufnahmen aus der Wendenacht zeigen Utopien einer besseren DDR

Unmittelbar vor der Wende, am 9. November 1989, debattieren DDR-Kirchenvertreter im Französischen Dom über die Zukunft des Landes. Christian Walther hat bislang unveröffentlichte Filmaufnahmen entdeckt, die von einem utopischen Treffen zeugen.

Seit 35 Jahren nahezu unbeachtet lag Filmmaterial vom 9. November 1989 in einem Archiv der ARD. rbb-Autor Christian Walther hat die Aufnahmen aus dem Französischen Dom bei einer Recherche zu Berlins Hugenotten entdeckt. Jetzt werden die Ausschnitte einer Diskussion über die Zukunft der DDR in den Stunden zwischen Schabowskis "sofort - unverzüglich" und dem Fall der Mauer erstmals gezeigt.

Programmhinweis

Die DDR-Bürger, die am Abend des 9. November 1989 teils aus Ost-Berlin, teils von außerhalb zum Französischen Dom strömten, wussten nicht, dass kurz zuvor neue Reiseregelungen verkündet wurden. Und sie ahnten nichts von deren Tragweite.

Günter Schabowski vom Politbüro der SED hatte um 18 Uhr nur ein paar hundert Meter entfernt eine Pressekonferenz zur Sitzung des Zentralkomitees der SED abgehalten. Eher beiläufig erwähnte er gegen Ende - kurz vor 19 Uhr - eine neue Regelung für ständige Ausreisen aus der DDR und erklärte auf Nachfrage: "Das tritt nach meiner Kenntnis - ist das sofort, unverzüglich."

Doch in einer Zeit ohne Handy und E-Mail verbreitete sich die Nachricht nur langsam in Ost-Berlin - und richtig glauben wollten ihrer Regierung dort ohnehin nicht mehr viele.

Vorläufer des Runden Tisches

Als also Hunderte aus Kirche, Blockparteien und neu gegründeten Oppositionsgruppen zu 19:30 Uhr in den Französischen Dom strömten, glaubten sie noch, über eine bessere DDR sprechen zu können. Und das taten sie mit Elan.

Ursprünglich hatte Gottfried Müller, Chefredakteur einer evangelischen Wochenzeitung aus Weimar und Mitglied der CDU, Ende Oktober vor allem die Reformkräfte der Ost-CDU eingeladen und zusätzlich noch Vertreter der Liberaldemokratischen Partei. Manfred Stolpe, damals parteiloser Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche, war offenbar daran beteiligt, den Kreis der Beteiligten zu erweitern. So waren dann sowohl SED als auch die neuen Oppositionsgruppen zur Stelle: Neues Forum, Demokratie Jetzt, Demokratischer Aufbruch und die ebenfalls frisch gegründete Sozialdemokratische Partei. Ob sich auch die Grüne Liga und die Initiative für Frieden und Menschenrechte vorstellten, ist in dem TV-Material nicht zu erkennen.

So oder so: Das Treffen war ein Vorläufer des Runden Tisches.

Quelle: dpa/Kaufhold

Die politische Elite von morgen

Hatten fünf Tage zuvor bei der Massendemonstration auf dem Alexanderplatz Schauspieler und Schriftsteller die Redeliste dominiert - Stephan Heym und Steffi Spira, Christa Wolf und Jan-Josef Liefers - so war es im Französischen Dom die politische Elite von morgen: Lothar de Maizière wurde gleich am nächsten Tag Chef der Ost-CDU, später Ministerpräsident der DDR, Gottfried Müller wurde Landtagspräsident, Christine Lieberknecht Ministerpräsidentin in Thüringen.

Manfred Stolpe ging in die SPD und wurde Ministerpräsident in Brandenburg, Thomas Krüger (SDP) wurde erst Mitglied des Magistrats, dann des Senats, dann des Bundestags, schließlich Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung. Konrad Weiß von Demokratie jetzt saß im Dom in der ersten Reihe und später für Bündnis 90 erst in der Volkskammer, dann im Bundestag.

Sein Mitstreiter und Nachbar auf der Kirchenbank, Jörg Hildebrandt, wurde Leitender Redakteur beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB), einem Vorläufer des rbb. Rainer Eppelmann (Demokratischer Aufbruch) wurde letzter Abrüstungs- und Verteidigungsminister der DDR. Und so weiter, bis hin zum Landrat im Burgenlandkreis.

Quelle: rbb

Ein Kommunist auf der Kanzel

Es war der Don-Camillo-und-Peppone-Moment des Abends, als der SED-Genosse aus dem Staatssekretariat für Kirchenfragen, Horst Dohle, gebeten wurde, aus akustischen Gründen doch besser von der Kanzel zu sprechen und zögerlich den Wegweisungen eines Kirchenmannes folgte.

Das war ihm noch nie passiert. Sein Credo damals: "Eigentlich wünschte ich jetzt jedem Kommunisten in diesem Raum einen guten christlichen Freund und umgekehrt. Denn beide sind wir in diesem Land miteinander Minderheiten und zusammen nicht die Hälfte der Bevölkerung dieses Landes." Dohle allerdings gehörte nicht zur politischen Elite von morgen. Er wurde bald nach der Vereinigung in den Vorruhestand verabschiedet.

Quelle: rbb

Der Führungsanspruch der SED in Frage gestellt

Und schon an diesem Abend war es nicht mehr die SED, die den Ton bestimmte. Selbst bislang treue Partner aus den sogenannten Blockparteien CDU und LDPD stellten die Führungsrolle der SED, die bis dato in der DDR-Verfassung festgeschrieben war, offen in Frage. Und niemand verteidigte diesen Anspruch, nicht einmal die Mitglieder der SED selbst.

Der neue, von der SED bestimmte Staatsratsvorsitzenden Egon Krenz wurde zum Rücktritt aufgefordert, die Zulassung aller neuen Parteien gefordert und freie Wahlen sowieso. Henning Stoerk stellte sich als Vorsitzender der unmittelbar zuvor gegründeten Christlich-Demokratischen Jugend vor und Christine Lieberknecht als deren Präsidiumsmitglied.

Veranstaltungshinweis

Lieberknecht: "Schleichender Genozid unserer Bevölkerung"

Die damals 31-jährige Pastorin Lieberknecht legte den Schwerpunkt ihres Diskussionsbeitrags auf die Umweltpolitik. Mit Blick auf das DDR-Chemiedreieck Schkopau, Leuna, Bitterfeld sagte sie: "Zwischen Magdeburg und Dresden vollzieht sich ja seit Jahren ein schleichender Genozid unserer Bevölkerung." Und sie forderte: "Es kann nicht länger sein, dass die DDR Müllkippe der Bundesrepublik Deutschland ist."

De Maizière: "CDU-Mehrheit steht ein für das Wort Sozialismus"

Ausgerechnet von Lothar de Maiziére, Spross einer Hugenottenfamilie und lange Anwalt ihrer Berliner Gemeinde, wurden an diesem Abend kaum zwei Sätze aufgezeichnet. Die Kamera lief nicht durchgehend mit, sondern nur punktuell. Zwar hatte das ARD-Studio DDR in der Schadowstraße gleich zwei Kameras geschickt, doch der Auftrag hieß offenbar nicht, einen Mitschnitt des Abends zu produzieren, sondern genug Material zu liefern für einen möglichen Beitrag in den Tagesthemen. Die Ereignisse im weiteren Verlauf der Nacht ließen das TV-Material für Jahrzehnte im Regal verschwinden. Ein Glücksfall, dass es überhaupt erhalten ist.

Die De-Maizière-Lücke aber ließ sich schließen, denn das Fernsehen der DDR war am Abend auch dabei, und hatte bereits um 22 Uhr einen Beitrag in der kurz zuvor gestarteten Spätausgabe der Aktuellen Kamera, der AK Zwo, gesendet - mit einem kurzen De-Maiziére-Interview. Und der Hessische Rundfunk hatte ihn schon mittags vor der Kamera, als sich Vertreter aus Hessens CDU mit Vertretern der Ost-CDU in Räumen der Evangelischen Kirche trafen. Dort sagte er: "Die CDU-Mehrheit unseres Landes steht, glaube ich, ein für den Begriff und das Wort Sozialismus, allerdings eines erneuerten Sozialismus, eines Sozialismus, der nach Buchstabierung dieses Wortes den Namen auch wirklich verdient."

Klar ist an diesem Abend, dass nicht Deutschland der Bezugspunkt ist, sondern die DDR. Und selbst die Sprecher aus der CDU ziehen nur den Führungsanspruch der SED in Zweifel, nicht aber den Sozialismus. Es hätte eine bessere DDR werden sollen, doch dann - nur Minuten nach dem Treffen im Französischen Dom - fiel die Mauer.

Stasi schreibt Informationsvermerk

Am nächsten Tag hieß es in einem Informationsvermerk der Stasi, dass die Diskussionsbeiträge der drei Mitglieder der SED als "ausgesprochen qualifiziert" bezeichnet wurden. Und dass die SED "langsam aus ihrer Schockhaltung kommt und zunehmend an Kraft gewinnt". Ein Irrtum, wie man heute weiß.

Sendung: ARD Mediathek, 09.10.2024

Beitrag von Christian Walther

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