Nahost-Demos in Berlin
Radikale nutzen Gewalt-Szenen von pro-palästinensischen Demos in Berlin, um die Stimmung gegen den deutschen Staat aufzuheizen. Das verdeckt den Blick darauf, wer in der Masse demonstriert: friedliche und sich mit Palästina solidarisierende Menschen. Von Hanna Dreyer
Ein Mann liegt vor einem Polizeiwagen auf der Straße, mehrere Polizisten zerren an ihm. Eine Frau steht hinter dem Mann und kreischt, neben ihm steht ein Rollstuhl. Diese Szene soll auf der pro-palästinensischen Demo in Berlin am 6. Oktober aufgenommen worden sein und Zehntausende haben sich das Video mittlerweile in sozialen Netzwerken angesehen.
Ein anderes Video zeigt, wie der später am Boden liegende Mann noch im Rollstuhl sitzt und sich dicht vor einem Polizeiauto, das sich durch die Menge Protestierender schiebt, auf die Straße fallen lässt. Dann beginnt er, auf das Polizeiauto einzuschlagen. Danach setzt die oben beschriebene Szene ein.
Keines der beiden Videos zeigt, was davor oder danach geschah. Beide Videos wurden zahllose Male bei Instagram, Tiktok & Co. gepostet und angeschaut. An der in einem Fall fehlenden, im anderen Fall gezeigten Szene, in dem sich der Demonstrant auf die Straße fallen lässt, zeigt sich auch, wie die Demonstrationen rund um den Nahost-Krieg auf Berlins Straßen im Moment häufig funktionieren.
Radikale Demonstrierende legen es darauf an, Polizeigewalt im Netz zu zeigen und damit den Vorwurf des staatlichen Unterdrückers zu zementieren. Der Vorwurf an die Gegenseite lautet wiederum, die pro-palästinensischen Proteste auf Eskalation zu reduzieren. In den sozialen Netzwerken lassen sich diese Vorwürfe passgenau durch Videos inszenieren - wie am Beispiel des Rollstuhlfahrers zu sehen ist.
Durch die Inszenierung wird die Realtität auf der Demo verzerrt. Der im Netz angebotene Argumentationsschnipsel wird von sehr viel mehr Menschen wahrgenommen als die reale Demonstration auf der Straße selbst.
Problematisch daran ist, dass auf der Demonstration weit mehr Menschen friedlich demonstrieren als Menschen in Auseinandersetzungen mit der Polizei geraten. Das bestätigt neben der Berliner Polizei auch Jannis Grimm vom Institut für Protest- und Friedensforschung an der Freien Universität Berlin (FU). "Die Bewegung der Protestierenden auf der Straße ist sehr heterogen. Sie eint als gemeinsamer Nenner, dass sie sich solidarisch mit Palästina zeigen."
Experten sprechen von Gruppierungen aus dem linken, anitzionistischen Milieu. Studierende, die nur aus politischen Gründen, nicht aber aus persönlichem Bezug, demonstrieren. Von anitimperialistischen, marxistischen Gruppierungen und von nationalistischen oder sogar islamistischen Gruppen, die familiären oder anderweitig persönlichen Bezug zu dem Krieg haben und einige eventuell der Hamas und Hisbollah nahestehen könnten. Einige Akteure gehören keiner konkreten Organisation an, mobilisieren aber häufig und sind bei vielen Protesten dabei.
"Auf den großen Demonstrationen vermischen sich diese Gruppen", so Grimm. Das heiße aber nicht unbedingt, dass sie die gleichen Ziele verfolgen. Einige wollten vor allem, dass das Thema weiterhin präsent in den Medien bleibe und Druck auf die Politik ausüben. "Andere sagen: Die deutsche Politik ist sowieso verloren. Wir haben ein Jahr Genozid und keinen interessiert das. Was wir tun können, ist, das Ganze zu skandalisieren, um Druck von außen aus dem internationalen Bereich zu erzeugen. Deutschland als Unterstützer eines Genozids sichtbar zu machen. Bilder von gewaltsamen Polizisten auf Demonstrationen sind dafür nützlich", sagt Grimm.
Radikale zu Gewalt bereite Demonstranten gebe es im Verhältnis nicht unbedingt viele. Das sagt auch die Berliner Polizei. Maximal 100 Akteure seien ihr bekannt, die immer wieder zu Eskalationen aufrufen, hieß es. Dazu kommen laut einer rbb-Reporterin noch einige Menschen, die dieser Stimmungsmacherei auf Demonstrationen gerne folgen. Am 6. Oktober waren laut Polizei etwa 3.500 Teilnehmer bei einer pro-palästinensischen Demonstration. Etwa 300 von ihnen seien gewaltbereit gewesen, so die rbb-Reporterin.
Wenige Menschen, die bereit seien, zu eskalieren, reichen allerdings aus, damit ein gewisses Bild von den Protesten entsteht, meint Grimm. "Sprechchöre von ein paar Dutzend Menschen, die 'Hamas' rufen, verbreiten sich durch die Medien und die Algorithmen der sozialen Netzwerke sehr viel schneller als Bilder friedlicher Demonstranten".
Dass diese Aktionen mitunter dazu führen, dass Demonstrationen vorzeitig abgebrochen werden, finde er problematisch. Dadurch werde Menschen, die friedlich ihre Solidarität zeigen wollen, der Raum genommen. Niemand könne derzeit eine entsprechende Demonstration veranstalten und kontrollieren, wer dahin kommt, so Grimm.
Viele Muslime seien über die Demonstrationen hinaus eingeschüchtert durch das Verhalten der Radikalisierten. "Sie halten sich zurück und sind still, weil sie wissen, wie schlimm diese Leute sind und wie gewaltbereit", sagt die Berliner Juristin Seyran Ates dem rbb. Sie berichtet von vielen Menschen in ihrem Bekanntenkreis, die nicht auf die Straße gehen, aber unmittelbar von dem Krieg betroffen sind. "Viele leiden still, trauen sich nicht darüber zu sprechen, dass sie es schlimm finden, was in Gaza passiert, auch wenn sie Israel nicht hassen. Oder dass sie die Hamas für einen toten Verwandten verantwortlich machen", so Ates. Einige wenige würden ihre Meinung sagen und hätten direkt Schwierigkeiten in ihrem Umfeld.
Öffentlich gibt es zwischen den Gruppen in der Bewegung keinen Zwist, außerhalb der Öffentlichkeit gebe es aber sehr wohl Debatten darüber, welche Formen von Protest die richtigen seien, sagt Grimm von der FU. Dabei gehe es nicht nur um Straßenproteste, sondern auch um Attacken auf Politiker:innen wie Kultursenator Chialo oder Schmierereien an Häusern. Manche meinen, man würde durch die Taten der eigenen Bewegung schaden. "Fünf Leute reichen für solche Aktionen aber aus, man wird sie nicht verhindern können", so Grimm.
Darüber, ob sich die pro-palästinensische Bewegung derzeit radikalisiert, gibt es unter Experten geteilte Meinungen. "Wir stellen eine starke Radikalisierung in den Gruppierungen fest. Das äußert sich zum Beispiel in der teilweise offen artikulierten Unterstützung der Hamas und anderen Formen von Terrorverherrlichungen", sagt Julia Kopp von Rias Berlin. Auch Juristin Ates sagt: "Diejenigen, die jetzt auf den Straßen den Tod von Israelis feiern und die Vernichtung des jüdischen Staates verlangen, das sind radikale Terroristen".
Grimm von der FU ist sich nicht so sicher, ob die Radikalisierung wirklich zunimmt. "Die Proteste werden konfrontativer. Das hat einerseits mit den Demonstrierenden zu tun, aber auch mit der härteren Linie der Polizei", meint er. Beide Seiten seien nicht darauf aus, zu deeskalieren. "Und wenn alle Seiten denken, gleich knallt's, dann knallt's". Dadurch sei die Radikalität sichtbarer geworden, aber da gewesen sei sie schon lange.
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Beitrag von Hanna Dreyer
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