Interview | DDR-Fluchthelfer
Nach dem Mauerbau in Berlin suchten viele Menschen im Osten verzweifelt nach einem Weg in den Westen. Fluchthelfer holten in den Jahren darauf Tausende über die Grenze – teilweise unter großen Risiken, wie der ehemalige Fluchthelfer Burkhart Veigel erzählt.
rbb|24: Herr Veigel, Sie haben in der 1960er Jahren vielen Menschen zur Flucht aus der DDR verholfen und sich dabei in gefährliche Situationen begeben. Hatten Sie nie Angst?
Burkhart Veigel: Ich bin sicher kein ängstlicher Typ, aber in einer Situation hatte ich Todesangst. Das war ganz am Anfang, da hatte mich ein Stasispitzel an die Grenze gelockt, damit ich von den Grenzern gefasst werde. Es war zwischen Frohnau und Hohen Neuendorf an einer stillgelegten Bahnstrecke, wir wollten eine Tour mit Flüchtlingen machen. Aber sowohl der Spitzel als auch sein Führungsoffizier waren wohl etwas unfähig – sie hatten vergessen, den Grenztruppen Bescheid zu sagen, dass ich an dieser Stelle am Zaun liege.
Die Grenzstreife ist nur drei Meter von mir entfernt vorbeigegangen und hat mich nicht bemerkt. Ich hatte Gesicht und Hände weggedreht und verborgen, deshalb habe ich die nicht gesehen – aber ich habe sie gerochen. Sie haben geraucht und sich unterhalten. Die haben mit ihrem Stock auf den Stacheldraht geschlagen, um sicherzugehen, dass er nicht zerschnitten ist – und sind weitergegangen. Ich hätte keine Chance gegen die Kalaschnikows gehabt.
Sie haben 1961 an der FU Berlin Medizin studiert. Direkt nach dem Mauerbau begannen Sie, von Westberlin aus anderen Menschen zur Flucht zu verhelfen. Was war Ihre Motivation?
Ich habe es nicht akzeptieren können, dass ein Staat seine Bürger einsperrt. Ich denke, jeder Mensch sollte die Möglichkeit haben, frei zu sein, sich frei entscheiden zu können, frei denken und sich selbst entwickeln zu können. Mein Altruismus prägt mich schon sehr stark, deshalb bin ich ja auch Mediziner geworden.
Wie lange konnten Sie unerkannt agieren?
Die Stasi hatte ab dem 7. Januar 1962 eine Personenbeschreibung von mir, und circa zehn Tage später hat ein DDR-Spitzel im Westen meinen vollen Namen und meine Adresse weitergegeben. Ab Januar 1962 war ich also verbrannt und konnte nicht mehr nach Ost-Berlin rübergehen. Ende 1962 hat Hilde Benjamin, die damalige DDR-Justizministerin, mit ihrem Generalstaatsanwalt Josef Streit vereinbart, dass sie mich zum Tode verurteilen wollen, wenn sie mich schnappen – sie haben mich aber nicht geschnappt. Sie haben zweimal versucht, mich zu entführen – 1964 und 1965 – aber das habe ich rechtzeitig bemerkt und bin ihnen von der Schippe gesprungen.
Ich habe nie mehr einen Fuß in ein sozialistisches Ausland gesetzt. Ein Freund, der ähnlich aktiv war wie ich, ist nach Jugoslawien gefahren. Das hätte ich nie gemacht.
Wie konnten Sie dann als Fluchthelfer weitermachen?
Es muss ja jemand das Ganze organisieren. Es muss jemand Ideen haben, die finanziellen Mittel aufbringen und ein Team zusammenbringen und –halten. 1963 und 1964 habe ich ein unglaublich tolles Team gehabt – wir haben viele Touren gemacht. Ich habe es offenbar vermocht, andere Menschen zu begeistern.
Die Aktionen waren ja sehr teuer: Pässe fälschen, Autos umbauen, Tunnel graben... Wie haben Sie das finanziert?
Als Fluchthelfer der ersten Stunde waren wir uns absolut sicher, dass wir das Geld vom Berliner Senat oder der Bundesregierung bekommen, dass sie sich nur überlegen müssen, aus welchem Topf sie uns das auf welchem Wege zukommen lassen.
Viele Fluchthelfer haben sich damals hoch verschuldet. Ich als Medizinstudent habe 50.000 Mark Schulden gemacht, aber gedacht: Ist ja kein Problem, das kriegen wir alles wieder zurück. Wir haben es aber nicht zurückgekriegt.
Deshalb haben meine Freunde ab 1963 Geld von den Flüchtlingen genommen, ich konkret ab Oktober 1964. Das wollten wir nie. Aber wir mussten es machen, um dann wieder anderen Flüchtlingen helfen zu können. Zum Beispiel der umgebaute Cadillac: Da haben mich Kauf und Umbau 50.000 Mark gekostet.
Im Armaturenbrett des Cadillac hatten Sie einen Hohlraum eingebaut, in dem sich ein Mensch verstecken konnte. Auf diese Weise wurde sehr vielen Menschen zur Flucht verholfen. Wie ist die Sache aufgeflogen?
Wir haben die Flucht mit dem Cadillac über die Tschechoslowakei und über Ungarn gemacht, und die Stasi hat deren Geheimdienste angeschrieben: Ihr müsst aufpassen, die holen unsere Bürger mit einem amerikanischen Auto. Sie wussten nicht mal welches, aber sie wussten: Es ist ein amerikanisches Auto. Nach einem halben Jahr kam die Antwort des tschechischen Geheimdienstes: Wir haben so wenig Dolmetscher, deshalb dauert das so lang. Weder die Tschechoslowakei noch Ungarn wollten der DDR in irgendeiner Weise helfen.
Der Cadillac ist letztlich im November 1967 in der Tschechoslowakei hochgegangen, gewissermaßen im Vorfrühling des Prager Frühlings. Erst nach mehrfacher Aufforderung durch die Stasi haben sie dann zwei Fluchthelfer und eine Flüchtlingsfrau verhaftet - und sie zur Ausweisung aus der Tschechoslowakei verurteilt. Die Tschechen wollten damit einfach nichts zu tun haben.
Warum haben Sie schließlich mit der Fluchthilfe aufgehört?
1969, als gerade unser erstes Kind geboren war, hatte meine Frau Angst. Sie sagte: Wenn sie mich oder unser Kind entführen wollen, da haben wir doch keine Chance, lass uns rausgehen aus Berlin. Deshalb sind wir dann aus Berlin weggezogen und 1970 habe ich ganz aufgehört mit der Fluchthilfe.
Gab es für Sie ein besonders bewegendes Ereignis im Zusammenhang mit der Fluchthilfe?
Viele. Zum Beispiel wollte ich Ende 1961 gemeinsam mit einer Bekannten ein Ehepaar rausbringen, mit holländischen Pässen. Die hatten ein kleines Kind dabei. Am Bahnhof Friedrichstraße gab es damals kurz vor Mitternacht immer eine lange Schlange – da mussten die Westler ja raus. Meine Bekannte hatte der Frau einen Spruch in Holländisch beigebracht: "Mijn meisje is moe" – also "mein Mädchen ist müde". Den sollte sie einem Grenzer sagen, damit er sie ein bisschen vorzieht. Das hat sie auch gesagt, aber der Grenzer hat sie in die Reihe zurückgeschoben, weil er es nicht verstanden hat.
Die Geschichte habe ich in mein Buch geschrieben. Und Heiligabend 2013 habe ich eine Mail von einer Frau bekommen: "Wir haben unserem Vater Ihr Buch geschenkt, und der kam auf einmal aus dem Zimmer gerast und sagte: 'Da ist unsere Geschichte beschrieben!' Und ich war das 'meijsje'!” Wir haben uns zwei Tage später getroffen, und Erinnerungen ausgetauscht.
In der ersten Zeit nach dem Mauerbau wurden Fluchthelfer als Helden betrachtet, ab Mitte der 60er Jahre war ihre Tätigkeit plötzlich nicht mehr so hoch angesehen. Wie kam das?
Auslöser waren die Passierscheingespräche 1963.* Der Berliner Senat hat, um die Gespräche nicht zu gefährden, die Fluchthelfer schlechtgemacht, denn die DDR hatte von Anfang an verlangt: "Ihr müsst eure Fluchthelfer ruhigstellen, sonst verhandeln wir nicht weiter." Es hat damals kein Fluchthelfer aufgehört, und trotzdem sind die Passierscheingespräche weitergegangen. Man musste den Drohungen der DDR also nicht immer Glauben schenken.
Die Presse hat es damals so dargestellt. "Fluchthelfer, das hat was mit Maschinenpistolen, mit Geld, mit Geheimdiensten zu tun, die nutzen die Not der Menschen aus." Das war natürlich Quatsch.
Ich kann durchaus nachvollziehen, dass ein gewisses Interesse bestanden hat, dass es keine Fluchthilfe mehr gibt, weil die Politik gedacht hat: Jetzt sind wir wieder dran. Ich habe mich aber von Mensch zu Mensch zuständig gefühlt. Was die Politik macht, hat mich eigentlich wenig interessiert.
Hat diese Kritik an den Fluchthelfern Sie damals persönlich getroffen?
Ja, sehr. Ich war darüber wütend und bin 2007 wieder nach Berlin gezogen mit dem Vorsatz, dieses Bild wieder zu ändern. Es ist ja dann tatsächlich so gekommen, dass relativ viele Fluchthelfer das Bundesverdienstkreuz bekommen haben, woran ich auch sehe, dass ein Paradigmenwechsel stattgefunden hat.
Wie war es für Sie, als die Mauer gefallen ist?
Ich habe in der Zeit in Stuttgart gelebt. Ich war noch in der Praxis, als meine Frau angerufen hat: Die Mauer ist gefallen! Ich bin nach Hause gegangen und habe den Rest der Nacht nur noch vor dem Fernseher gesessen und geheult. Meine Geschichte war ja, dass ich wollte, dass die Menschen frei sind, es war also die Erfüllung meiner Sehnsüchte. Diese Nacht war für mich etwas total Irres.
Ich bin dann bald nach Berlin gefahren, habe meinen Kindern mein Berlin gezeigt und bin auch zum S-Bahnhof Friedrichstraße, wo ich damals gestanden und gehofft habe, dass jetzt möglichst schnell die nächste S-Bahn kommt und mich zum Lehrter Stadtbahnhof bringt oder nach Bellevue. Da konnte ich dann früher mit meinen Flüchtlingen aussteigen.
Ein Thema, das unsere Gesellschaft gerade spaltet, ist das Thema Migration. Das hat ja auch etwas mit Flucht zu tun. Sehen Sie denn Parallelen zwischen Ihrem damaligen Tun und den Aktivitäten von Schleusern, die Menschen heute helfen, aus ihren Heimatländern zu fliehen?
Es hat die Gemeinsamkeit, dass wir beide bemüht sind – oder waren – Menschen illegal und unerkannt über Grenzen zu bringen. Der Unterschied ist: Wir haben Menschen aus einem Land rausgeholt, aus dem sie nicht rausdurften. Aber sie durften selbstverständlich in das andere rein und wurden mit Kusshand aufgenommen. Heute dürfen sie aus ihrem Land raus, aber sie dürfen hier nicht rein.
Zweiter großer Unterschied: Wir haben unsere Flüchtlinge damals einzeln begleitet, heute schicken viele ihre Leute übers Meer oder lassen sie im Stich. Heute spielt eben Geld in den meisten Fällen die große Rolle.
Ich meine, dass Grenzen sein müssen, auch um Regeln durchzusetzen, aber ich denke, dass man Grenzen durchaus auch überwinden können sollte, ohne dass man dafür gleich bestraft wird. Ich habe auch etwas gegen viele Schleuser, die heute bestraft werden – obwohl es einige drunter gibt, die aus idealistischen Gründen handeln. Und das müsste man erstmal prüfen und sie nicht generell kriminalisieren. Man darf durchaus anderen Menschen über Grenzen helfen, meine ich.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Nele Haring, rbb|24.de
*Nach dem Mauerbau am 13. August 1961 durften Westberliner mehr als zwei Jahre lang nicht nach Ostberlin einreisen. Am 17. Dezember 1963 unterzeichneten Unterhändler des Westberliner Senats und der DDR-Regierung nach langen Verhandlungen das erste Passierscheinabkommen. Westberliner konnten zu Weihnachten 1963 erstmals wieder ihre Familien im Ostteil der Stadt besuchen.
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