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Ersatzfreiheitsstrafe
Eine Initiative kauft seit 2021 Menschen frei, die ohne Ticket Bus und Bahn gefahren sind und in Haft sitzen, weil sie die verhängte Geldstrafe nicht zahlen konnten. An diesem Mittwoch sollen bundesweit 100 Inhaftierte freikommen, viele davon in Berlin. Von Sabine Müller
Als "größte Gefangenenbefreiung der bundesdeutschen Geschichte" bewirbt der Freiheitsfonds seinen "Freedom Day", der nun schon zum zehnten Mal stattfindet. Die Initiative von Gründer Arne Semsrott hat nach eigenen Angaben diesmal genug Spenden gesammelt, um die Geldstrafen von 100 Menschen zu zahlen, die wegen "Beförderungserschleichung" in Haft sitzen.
Der Journalist und Aktivist Semsrott kritisiert es gegenüber dem rbb als "unverhältnismäßig", dass wiederholtes Schwarzfahren laut §265a des Strafgesetzbuchs hinter Gitter führen kann. Semsrott sieht eine "Diskriminierung vor allem armer Menschen", denn wie der Freiheitsfonds auf seiner Website schreibt, sind die Betroffenen meist arbeitslos (87 Prozent), ohne festen Wohnsitz (15 Prozent) und suizidgefährdet (15 Prozent).
In Berlin sollen diesmal 34 Menschen freikommen. Für sie öffnen sich die Gefängnistore in der Männer-JVA Plötzensee und der Frauenhaftanstalt Lichtenberg. Manche haben sich selbst an den Freiheitsfonds gewandt, bei anderen waren es Angehörige. Aber die meisten Anträge, Inhaftierte freizukaufen, kommen laut Semsrott von Gefängnisleitungen, die diese Form der Haft nicht für sinnvoll halten. "Das zeigt die ganze Absurdität der Situation", kritisiert er.
1.091 Menschen hat der Freiheitsfonds nach eigenen Angaben in den vergangenen drei Jahren freigekauft, 451 davon in Berlin. Mit der aktuellen "Freedom Day"-Aktion überspringt der Freiheitsfonds die Millionen-Marke, er hat dann 1.000.040 Euro an Spenden ausgegeben, um Menschen aus der Haft zu holen. Sinnvoll angelegtes Geld, findet Semsrott. Er rechnet vor, dem Staat damit bundesweit knapp 17 Millionen Euro gespart zu haben. Denn jeder Tag Haft ist teuer, in Berlin kostet er laut Berliner Justiz knapp 230 Euro.
In diesem Jahr haben laut Berliner Staatsanwaltschaft bisher 328 Menschen Ersatzfreiheitsstrafen wegen "Erschleichen von Leistungen" nach § 265a StGB angetreten (2023 waren es 541). Die meisten von ihnen haben die Strafe bereits verbüßt.
Um welche Delikte es dabei ging, wird nicht einzeln aufgeschlüsselt. Leistungserschleichung liegt zum Beispiel auch dann vor, wenn sich jemand ohne zu zahlen Zutritt zu einer Veranstaltung verschafft. Aus Justizkreisen heißt es aber, der überwiegende Teil der Ersatzfreiheitsstrafen werde gegen Schwarzfahrer verhängt.
Ohne Ticket werden in Berlin jedes Jahr Tausende erwischt, die allermeisten zahlen ihre Geldstrafe allerdings. Die Berliner S-Bahn teilte dem rbb mit, sie habe in diesem Jahr bis Ende Oktober rund 11.600 Strafanzeigen wegen Beförderungserschleichung gestellt. Bei der BVG waren es bisher 1.600. Nach Informationen des rbb passiert dies erst bei wiederholtem Schwarzfahren.
Deutschlandweit kommen jedes Jahr etwa 7.000 Menschen wegen Schwarzfahrens in Haft. Der Freiheitsfonds kümmert sich aber nicht nur ums Freikaufen. Er arbeitet daran, den Straftatbestand der Beförderungserschleichung, der 1935 von den Nazis eingeführt wurde, komplett abzuschaffen. Mit dieser Forderung ist er nicht allein: Viele Juristen, Anwältinnen und auch Politiker teilen sie, ebenso die Mehrheit der Bevölkerung.
Im Oktober legte der damalige FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann einen entsprechenden Gesetzentwurf vor, der Schwarzfahren von einer Straftat zu einer Ordnungswidrigkeit herabstufen soll. Doch nach dem Aus der Ampel-Koalition ist unklar, ob dieser nun weiterverfolgt wird. Freiheitsfonds-Gründer Arne Semsrott fordert, der Bundestag müsse dafür sorgen, dass eine Entkriminalisierung des Schwarzfahrens noch vor der Neuwahl verabschiedet werde. In der Berliner Landespolitik gibt es sowohl Unterstützung für diese Forderung als auch Widerstand dagegen.
Seine Fraktion lehne eine Entkriminalisierung der Leistungserschleichung ab, sagt der rechtspolitische Sprecher der CDU, Alexander Herrmann, dem rbb. Ebenso sieht es die AfD. "Armut ist fraglos hart", so der Abgeordnete Marc Vallendar, "darf aber auch kein Schutz vor Strafe sein."
Justizsenatorin Felor Badenberg (CDU) vermeidet eine klare Positionierung, verweist nur auf die geltende Rechtslage. "Solange eine Strafnorm nicht außer Kraft gesetzt ist, wird sie von den Strafverfolgungsbehörden und Gerichten angewandt", schreibt ihre Pressestelle.
Einig sind sich SPD, Grüne und Linke, sie alle wollen das Schwarzfahren als Straftatbestand abgeschafft sehen. Jan Lehmann, der rechtspolitische Sprecher der SPD-Fraktion, nennt Strafverfolgung bis zur Ersatzfreiheitsstrafe "nicht menschenwürdig und nicht mehr zeitgemäß". Die Grüne Petra Vandrey verweist angesichts klammer Kassen noch auf einen anderen Punkt: "Haftplätze sind teuer und unsere Gefängnisse ohnehin schon am Rande ihrer Kapazitäten, besonders was das fehlende Personal in den Gefängnissen angeht."
Die Sorge, dass ein Gesetzentwurf aus dem Bund auf sich warten lässt oder unter einer möglichen neuen, CDU-geführten Bundesregierung gar kein Thema mehr ist, treibt Berliner Politiker um. Unter anderem die Linksfraktion, deren Abgeordnete 2023 laut Fraktions-Angaben übrigens 24.140 Euro an den Freiheitsfonds gespendet haben.
Wie Jan Lehmann von der SPD verweist auch der rechtspolitische Sprecher der Linksfraktion, Sebastian Schlüsselburg, auf eine andere Handlungsoption. Der Senat könne das Landesunternehmen BVG anweisen, auf Strafzeigen wegen Schwarzfahrens zu verzichten. Schlüsselburg verweist auf andere Städte, in denen Verkehrsunternehmen dies schon tun, etwa Köln, Bremen oder Potsdam. Im Berliner Senat gibt es nach rbb-Informationen aber keine Überlegungen in diese Richtung.
Sendung: rbb24 Inforadio, 04.12.2024, 9:40 Uhr
Beitrag von Sabine Müller
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