Jesidinnen in Bad Saarow
Bad Saarow wird 60 jesidischen Frauen wohl für immer in Erinnerung bleiben. Hier fanden sie Schutz und Zuflucht - nach jahrelanger Sklaverei und Vergewaltigung durch IS-Kämpfer im Nordirak. Jetzt wird das Hilfsprojekt beendet. Von Carmen Gräf
Vor dem Caritas-Gebäude in Bad Saarow, direkt am See, stehen Frauen in Grüppchen zusammen, um sie herum tobt eine Handvoll Kinder. Die Frauen begrüßen einander unter Freudentränen, lachen und fallen sich um den Hals. Dass sie schwer traumatisierte Menschen sind, lässt sich nicht erahnen.
"Am 3. August 2014 wurde unser Dorf Shingal im Nordirak von IS-Truppen überfallen. Die meisten Jesiden sind aus dem Dorf geflüchtet." Wenn Natali diese Geschichte erzählt, verdunkelt sich ihr Gesicht. Damals war sie 14 Jahre alt und lebte mit ihren Eltern, drei Brüdern und drei Schwestern zusammen.
"Meine Familie konnte leider nicht weg, weil meine Mutter krank und frisch operiert war. Unser Auto war kaputt." Eine Woche lang blieben sie in ihrem Haus, dann kamen IS-Leute und forderten ihren Vater auf, zum Islam zu konvertieren. Er habe zwei Tage Bedenkzeit. "Mein Vater bat einen arabischen Nachbarn, uns zu helfen, aus dem Dorf zu flüchten. So gelangten wir zu einer jesidischen Familie im Nachbardorf."
Dort mussten die Jesiden und Jesidinnen sich auf IS-Befehl in einer Schule versammeln. Natali wurde von ihrer Familie getrennt. Seitdem hat sie nichts mehr von ihren Eltern gehört, auch von zwei ihrer Brüder gibt es keine Nachricht.
Natali, die eigentlich anders heißt, wurde von IS-Leuten an einen IS-Kämpfer verkauft. "Er hat mich gekauft und vergewaltigt“, sagt Natali mit tonloser Stimme. "Ein Jahr lang war ich dort. Ich habe gekocht und sauber gemacht und wenn ich nicht zugelassen habe, dass er mich vergewaltigt, hat er mich geschlagen oder mir nichts zu essen gegeben."
Nahrungsentzug war eine gängige Bestrafungsmethode in der Gefangenschaft – auch die 34-jährige Zeri berichtet davon. Nach einem Fluchtversuch bekamen sie und ihre beiden drei- und vierjährigen Töchter vier Tage lang nichts zu essen und zu trinken.
Zeri war bei der Gefangennahme schwanger, aber ihr Sohn wurde ihr kurz nach der Geburt weggenommen. Sie selbst wurde als Sexsklavin nacheinander an verschiedene Männer verkauft. "Jedes Mal, wenn ich verkauft wurde, habe ich die Männer gebeten: Bitte sagt mir, wo mein Sohn ist." Noch heute ringt sie um Fassung, wenn sie das erzählt.
Auch Natali spricht von Verzweiflung. „Während meiner IS-Gefangenschaft habe ich oft versucht, mich umzubringen. Es war alles sehr schwer für mich.“ Innerlich habe sie sich gegen ihre Peiniger vom IS gewehrt. "Ich habe mir gesagt, ihr habt alles versucht, aber brechen könnt ihr mich nicht. Ich werde neu anfangen, ich werde eine neue Sprache lernen, ich werde ein neues Leben leben, ich werde eine Familie gründen. Das hat mir die Stärke und die Hoffnung gegeben." Natali wusste, dass Tausende Frauen und Kinder ihr Schicksal teilten.
2018 wurde Natali schließlich von irakischen Soldaten befreit. Auch Zeri kam frei: Nach mehr als vier Jahren Gefangenschaft gelang es ihren Verwandten, sie freizukaufen. "Es war ein sehr hoher Preis", sagt sie. Nach der Befreiung kamen die Frauen in Flüchtlingscamps oder bei Verwandten unter. Von dort aus konnten sie nach Deutschland ausreisen.
Zeri kam gemeinsam mit ihrem Bruder in die Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete in Bad Saarow, in der zu diesem Zeitpunkt etwa 60 jesidische Geflüchtete untergebracht waren - fast alle waren Frauen, die über mehrere Jahre in IS-Gefangenschaft waren. Auch Natali war eine von ihnen. Das Projekt startete 2019 im Rahmen eines brandenburgischen Landesaufnahmeprogramms. In Bad Saarow wurden die Frauen gemeinsam betreut. Hier am Scharmützelsee versuchten sie, sich ins Leben zurückzutasten.
Viele von ihnen hätten sich am Anfang gar nicht getraut, das Gelände zu verlassen, sagt Thomas Thieme, Leiter der Einrichtung. Thieme ist Caritas-Beauftragter für den Landkreis Oder-Spree und der Stadt Frankfurt (Oder). Die Psychologin Ilka Konopatsch versuchte damals, die Frauen aufzufangen. Ob man ein solches Trauma verarbeiten könne, wisse sie nicht, sagt sie. "Es geht eher darum, damit umzugehen. Und da haben die Frauen wirklich eine wahnsinnige Transformation durchgemacht."
Konopatsch ist beeindruckt vom Entwicklungsprozess der Jesidinnen. Allein den Mut und das Standing zu haben, vor die Kamera zu treten und zu sprechen - das sei am Anfang undenkbar gewesen. Mehr als vier Jahre lang wurden die Frauen und ihre Familien in Bad Saarow betreut, bevor sie ein selbständiges Leben an anderen Orten begannen. "Heute leben die Frauen allein in Wohnungen in Oldenburg, Hamm, Köln und meistern ihr Leben völlig selbstständig mit kleinen Einschränkungen", sagt Thieme. "Sie sind sind angekommen und dankbar für die Freiheiten, die sie hier haben." Natali zum Beispiel lebt derzeit in Oldenburg und macht den Realschulabschluss. Danach möchte sie vielleicht Erzieherin werden.
Keine der Frauen will zurück in ihre Heimat. „Ich möchte dem deutschen Staat danken, dass er uns aufgenommen hat“, sagt Zeri. "Mir geht es gut. Ich bin mittlerweile fünf Jahre hier, meine Kinder sind in der Schule und haben gute Leistungen – wir erleben hier Sicherheit und Menschlichkeit."
Ihren kleinen Sohn fand Zeri nach langer Suche in einer Gemeinschaftsunterkunft im Irak wieder, in der er zusammen mit anderen Kindern betreut wurde. Er war im Krabbelalter und erkannte seine Mutter nicht. Erst in einem mühsamen Prozess gewöhnte er sich an sie. Nur ihr Mann bleibt verschwunden. Zeri vermutet, dass er im Irak getötet wurde.
Derzeit werden noch 2.600 Jesiden und Jesidinnen in IS-Gefangenschaft vermutet. Familien wurden auseinandergerissen, Kinder ihren Eltern weggenommen. "Viele Kinder wissen bis heute nicht, wo sie herkommen", sagt Natali, die gemeinsam mit ihren drei Schwestern und einem ihrer drei Brüder den Völkermord überlebt hat.
"Viele von uns wurden fünf bis zehnmal verkauft und immer wieder vergewaltigt, darunter auch kleine Mädchen", erzählt Zeri. Ob die Gräueltaten an den Jesiden und Jesidinnen religiös begründet werden oder nicht, ist ihr gleichgültig. "Es soll einfach nur aufhören."
Nach fünf Jahren läuft das Projekt für die Jesidinnen in Bad Saarow aus, eine Verlängerung ist nicht geplant. Die Frauen feiern den Abschied mit einem kleinen Fest in der Aula der Geflüchtetenunterkunft. Ihr gemeinsames Leid verbindet sie - auch wenn sie nicht wissen, ob und wann sie sich wiedersehen werden.
Sendung: rbb24 Brandenburg Aktuell, 28.12.2024, 19:30 Uhr
Beitrag von Carmen Gräf
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