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Quelle: BSIP/MENDIL

Interview | Umweltmedizinern Barbara Hoffmann

"12.800 vorzeitige Todesfälle pro Jahr ist seriös geschätzt"

Wer in Berlin an einer verkehrsreichen Straße lebt, stirbt aufgrund der Luftbelastung im Schnitt rund ein Jahr früher. Warum Stickoxid so gesundheitsschädlich ist, erläutert Umweltmedizinern Barbara Hoffmann im Interview.

rbb|24: Frau Hoffmann, die Europäische Umweltagentur hat die Auswirkungen der hohen Stickoxid-Werte in deutschen Großstädten in drastische Zahlen gefasst: 12.860 Menschen seien im vergangenen Jahr in Deutschland wegen der Stickoxid-Belastung vorzeitig gestorben. Steckt dahinter seriöse Wissenschaft - oder ist das Alarmismus?

Barbara Hoffmann: Die Zahl ist eine Hochrechnung und natürlich mit einer gewissen Unsicherheit behaftet. Sie basiert aber auf solider Wissenschaft. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat die Studien, die es zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Stickoxid gibt, zusammengefasst und bewertet. An diese Bewertung hat sich die Umweltagentur gehalten. Die vorliegenden Studien sehen einen klaren Zusammenhang zwischen hoher Stickoxid-Belastung der Luft und dem Verlust von Lebensjahren. Menschen, die an verkehrsreichen Straßen leben, haben demnach häufiger Lungenerkrankungen und Herz-Kreislauferkrankungen. Ich halte die Hochrechnung unterm Strich für seriös.

Zur Person

Barbara Hoffmann, (51) leitet an der Universität Düsseldorf eine Arbeitsgruppe für Umweltmedizin. Dort forscht die Professorin unter anderem zu den gesundheitlichen Auswirkungen von Feinstaub und Stickoxiden. Sie leitet zu dem Thema eine Langzeitstudie mit rund 5.000 Probanden.

In unserem Messprojekt haben wir an fast 40 verkehrsreichen Straßen in Berlin Werte von über 50 Mikrogramm gemessen. Wer längere Zeit an solch einer Straße lebt, stirbt ein Jahr früher. Ist diese Aussage korrekt?

Im Mittel leben wir alle durch die Belastung durch Feinstaub und Stickoxid zehn Monate kürzer. Wer an einer starkbefahrenen Straße lebt, hat dabei eine höhere Wahrscheinlichkeit, mehr Lebenszeit zu verlieren als im Durchschnitt. Bei einem einzelnen Todesfall kann man dabei nicht sagen, was die Ursache war. Aber je mehr Risikofaktoren jemand ansammelt, desto wahrscheinlicher ist es, dass er erkrankt. Wer sich gesund ernährt, Sport treibt, nicht raucht und wenig Alkohol trinkt, kann den Nachteil seiner Wohnungslage an einer Hauptverkehrsstraße also ein Stück weit wettmachen. Wer mit solch einer gesunden Lebensweise im Grünen lebt, hat aber im statistischen Durchschnitt ein längeres Leben.

Wie wirkt Stickoxid sich denn konkret im menschlichen Körper aus - was haben Studien dazu gezeigt?

In mehreren toxikologischen Studien wurde die Lungenfunktion einer Versuchsgruppe kurz nach dem Einatmen von Stickoxid gemessen. Dabei spazierte beispielsweise eine Kontrollgruppe zwei Stunden lang durch einen Park, die andere Gruppe marschierte zwei Stunden an einer vielbefahrenen Straße entlang. Dabei zeigte sich: Wer vorher viele Stickoxide einatmete, dessen Lungenfunktion sank messbar ab. Auch die Entzündungswerte in der Lunge stiegen an.

Messungen von rbb & TU

Stickoxid-Messreihe von rbb|24 und TU Berlin

An diesen Berliner Straßen herrscht Abgasalarm

Mehr Berliner als bislang bekannt sind zu hoher Stickoxid-Belastung ausgesetzt - das zeigen Messungen von rbb|24 und der TU Berlin. Das Problem ist flächendeckend: An 73 Standorten liegen die Werte über dem Grenzwert. Unsere Datenanalyse zeigt die Belastung in Ihrer Nähe.

Heißt das, ich sollte besser nicht an einer Hauptverkehrsstraße entlang mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren? Oder wirkt sich Stickoxid bei mir nicht so stark aus, weil ich nicht zu einer Risikogruppe gehöre?

Auf lange Sicht macht es schon Sinn, wenn sie für den Weg zur Arbeit weniger befahrene Seitenstraßen nutzen. In langfristig angelegten Kohortenstudien zeigte sich aber, dass vor allem vorerkrankte Menschen wie Asthmatiker oder chronisch lungenkranke Menschen Lebenszeit verlieren, wenn sie an einer vielbefahrenen Straße wohnen. Aber auch Senioren, die an vielbefahrenen Straßen wohnen, werden schneller luftnötig, weil ihr Lungenvolumen schneller abnimmt als bei Senioren, die in gesunder Luft leben. Zudem zeigten sich auch bei Kindern deutlich negative Effekte.

Welche Effekte waren das?

Studienautoren haben festgestellt, dass Kinder, die in stark belasteter Luft aufgewachsen sind, mit 18 Jahren im Schnitt eine um rund fünf Prozent kleinere Lunge hatten als Kinder, die in sauberer Luft aufgewachsen sind. Das liegt daran, dass Kinder eine höhere Atemfrequenz haben und sich ihr Lungengewebe noch entwickelt. Deshalb reagieren sie empfindlicher auf das Reizgas Stickoxid.

Sie selbst betreuen seit 2005 Teilnehmer einer Langzeitstudie. Wie ist diese Studie aufgebaut - und wie stellen sie sicher, dass nicht andere Faktoren dafür verantwortlich sind, dass die Probanden krank werden?

An unserer Studie, die inzwischen seit 18 Jahren läuft, nehmen rund 5.000 Menschen aus drei Ruhrgebiets-Städten teil. Ein Teil von ihnen wohnt an vielbefahrenen Straßen, ein anderer Teil im Grünen. In regelmäßigen Abständen kontrollieren wir, welche Krankheiten bei diesen Personen neu aufgetreten sind. Um den Einfluss anderer Faktoren zu minimieren, vergleichen wir dabei Studienteilnehmer miteinander, die in vielen Merkmalen übereinstimmen.

Ein fiktives Beispiel: Ein Mann ist 60 Jahre alt, raucht nicht, hat leichtes Übergewicht, und einen durchschnittlich hohen Blutdruck. Er wohnt im Essener Norden an einer viel befahrenen Bundesstraße. Sein Zwilling, der genau die gleiche körperliche Konstitution hat, wohnt im Süden Bochums in einer ruhigen Gegend. Er hat im Vergleich zu seinem Bruder ein um 22 Prozent höheres Risiko, an Bluthochdruck zu erkranken, das Risiko für einen Schlaganfall ist um 19 Prozent erhöht, das Risiko für Herzinfarkte um 13 Prozent. Nur weil er an einer vielbefahrenen Straße wohnt.

Der Berliner Senat versucht nun, die Stickoxid-Belastung zu reduzieren - durch Elektro-Taxis, Filter für Diesel-Busse und Tempo-30-Zonen. Macht es in Bezug auf die Gesundheitswirkungen wirklich einen Unterschied, wenn der Stickoxidwert an einer Straße von 43 auf 39 sinkt?

Auf jeden Fall. Studien haben gezeigt, dass das Risiko für Lungen- und Herzkreislaufkrankheiten umso stärker sinkt, je niedriger der Stickoxid-Wert ist. Selbst bei relativ niedrigen Werten von 20 Mikrogramm lässt sich dabei noch ein negativer Effekt für die Gesundheit feststellen. Jedes Mikrogramm Stickoxid weniger in der Luft hat also einen Effekt und ist ein Gewinn für die Gesundheit.

Das Interview führte Robin Avram

 

Sendung: Abendschau, 12.12.2017, 19.30 Uhr

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