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Video: Abendschau | 04.11.2019 | Ulli Zelle | Quelle: Herbstsalon/Gorki/Lola Arias

Performance "Audition for a Demonstration"

"Jeder weiß: Man kann nicht Schabowski sein"

Eine Performance des Maxim-Gorki-Theaters erinnert an den 4. November 1989, als die bis dahin größte Demonstration von DDR-Oppositionellen in Berlin stattfand. Dabei werden politische Größen im Haus der Statistik allerdings von Laien gespielt. Von Laurina Schräder  

Sie war die größte nicht staatlich gelenkte Demonstration in der Geschichte der DDR: Die Demonstration am 4. November auf dem Alexanderplatz. Rund eine Million Menschen sollen laut Veranstalter damals an der Demo teilgenommen haben. Still, ohne Gesänge, und friedlich: So erinnert sich Gisela Nauck an den Tag. Heute, 30 Jahre später, steht sie im Haus der Statistik im schwarzen Trenchcoat und grünem Schal, Brille und schwarzen, schulterlangen Haaren. Sie ist verkleidet als Christa Wolf und kommt gerade von ihrer Performance.

Wie bei einem Karaoke-Auftritt hat sie zwar keinen bekannten Song in ein Mikro gesungen, aber die Rede von Christa Wolf mitgesprochen. Sätze wie "Was bisher so schwer auszusprechen war, geht uns auf einmal frei über die Lippen. Wir staunen, was wir offenbar schon lange gedacht haben und was wir uns jetzt laut zu rufen: Demokratie jetzt oder nie!" Oder "Das Staatsvolk der DDR geht auf die Straße, um sich als Volk zu erkennen."

Video-Vorführung

Maxim-Gorki-Theater

Audition for a Demonstration

4. November bis 17. November, 16.00 bis 22.00 Uhr, Haus der Statistik, Otto-Braun-Straße 70-72, 10178 Berlin

Den Blick erweitern

Dass am 9. November 1989 die Grenze zwischen Ost- und West-Deutschland geöffnet wurde, gilt gemeinhin als deutsch-deutsche-Erfolgsgeschichte - unabhängig von individuellen Eindrücken. Das Maxim-Gorki-Theater will diese der bisherigen Geschichtsschreibung hinzufügen. Im Rahmen des 4. Berliner Herbstsalons hat das Theater unter der Leitung der Regisseurin Lola Arias und des Dramaturgs Aljoscha Begrich im Haus der Statistik zur "Audition for a Demonstration" aufgerufen.

"Die Zielsetzung ist für mich, dass der Blick erweitert wird. Wir haben alle eine offizielle Geschichtsschreibung", erklärt Begrich. "Es gibt aber abweichende Meinungen zu dem, wie wir die Geschichte gemeinhin wahrnehmen. Das ist sehr interessant, und ich glaube, das ist wichtig, um dieses Land zu verstehen."

rbb-Projekt

9. November, 13-20 Uhr

"Erzähle deine Geschichte – vom Mauerfall bis heute"

Wie haben wir die letzten 30 Jahre seit dem Mauerfall erlebt? Der rbb sammelt Geschichten aus der Region – von Glücklichen und Frustrierten, Gewinnern und Abgehängten, Euphorischen und Enttäuschten, Wessis und Ossis. Auftakt des Projektes ist am 9. November. Von 13 bis 20 Uhr finden im Sony Center am Potsdamer Platz unter dem Motto "Erzähle deine Geschichte – vom Mauerfall bis heute" emotionale Gesprächsrunden mit prominenten und bisher unbekannten Zeitzeugen statt - Eintritt frei. Weitere Infos unter www.rbb-deine-geschichte.de.

Ein Gefühl von Unbestimmtheit

Diejenigen, die am Sonntag vorbeigekommen sind, müssen zunächst einen Fragebogen ausfüllen, bevor sie ihre Geschichte erzählen können: "An welche Demonstrationen, an denen Sie teilgenommen haben, erinnern Sie sich am meisten?" lautet die erste von sieben Fragen auf dem Zettel. "Maximal 8" steht dahinter. Für viele ist die Antwort der 4. November 1989. Nach dem Ausfüllen des Bogens müssen sie sich entscheiden: zuschauen oder teilnehmen.

Wer sich für "teilnehmen" entschieden hat, begibt sich in den mobilen Kostümfundus des Gorki-Theaters. Maskenbildnerinnen friemeln Perücken zurecht, formen Augenbrauen und Lippen neu und passen Teilnehmerin und Teilnehmer ihrer Figur an. Darunter Dramatiker Heiner Müller, Günter Schabowski von der SED, oder eben Christa Wolf. "Es war für mich ein Gefühl von Unbestimmtheit", erzählt Gisela Nauck im Interview mit Arias und Begrich. Und, dass sie trotzdem nicht zu Hause bleiben konnte, um sich die Gelegenheit nicht entgehen zu lassen, bei der Demo öffentlich zu zeigen, was man dachte.

Haus der Statistik in Berlin-Mitte | Quelle: www.imago-images.de/Boness

"Jeder weiß - es ist absurd"

Im Anschluss an ihr Interview folgt die Performance: Vor einem Green-Screen spricht sie die Rede von Christa Wolf mit. Die Originalbilder von 1989 sieht nur das Publikum im Zuschauerraum. Sie werden hinter der verkleideten Gisela Nauck eingeblendet.

Zum Teil hat das etwas Komisches. Das Reenactment, dieses Nachstellen der historischen Situationen, wirkt oft schräg, wie eine Karikatur der Geschichte. Wenn zum Beispiel ein falscher Bernd Niestroj den Kommentar zur Demonstration vom 4. November liest und dazu Regie-Anweisungen aus dem Off von Aljoscha Begrich zu hören sind. Oder die schwedische Künstlerin Gittan Jönsson mit einer Sektflasche ausgestattet so tut, als würde sie an der gerade geöffneten Grenze, vor der Berliner Mauer feiern und zu "Go West" von den "Pet Shop Boys" tanzen.

Für Regisseurin Lola Arias ist die Komik allerdings wünschenswert: "Ohne Humor gibt es nichts mehr," sagt sie. "Diese absurde Situation, in die man hier gesteckt wird, macht das Projekt nur interessanter. Jeder weiß, es ist absurd. Man kann nicht Schabowski oder Wolf sein. Aber mit der Geschichte zu lachen, heißt, ihr den musealen Charakter zu nehmen. Etwas aktiv mit ihr zu machen."

Der Kern von "Audition for a Demonstration"

Manchmal lenken die Kostüme allerdings auch ab, von den eigentlichen Zeitzeugenberichten. Von ihren spannenden Geschichten, die sie im Interview erzählen. Wie von der Demo gegen eine Wende, oder von der Enttäuschung darüber, dass zwar schnell Konsumgüter wie Fernseher oder Apfelsinen in die eine Richtung "geteilt" wurden, über einen demokratischen Sozialismus beispielsweise aber niemand nachzudenken schien. Sie sind der Kern von "Audition for a Demonstration" und der Grund, warum sich der Besuch im Haus der Statistik lohnt.

"Die Atmosphäre, die am Alex herrschte, kann man nicht mehr rekapitulieren", bilanziert Gisela Nauck, ohne Christa-Wolf-Kostüm, nach ihrer Performance. Dass sie mitgemacht hat, begründet sie: "Ich habe das als Chance empfunden, mich wieder konkreter zu erinnern. 30 Jahre sind eine lange Zeit, besonders dann, wenn man 1989 in eine völlig andere Gesellschaft geworfen worden ist, die einem auf-oktroyiert worden ist. Unser Leben ist umgekrempelt worden. Und ich habe die Hoffnung, dass Leute durch solche Veranstaltungen sich heute genauer informieren und recherchieren, wie es wirklich war."

Sendung: Radioeins, 04.11.2019, 10.00 Uhr

Beitrag von Laurina Schräder

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