Gastarbeiter über den Mauerfall
Orhan Yüksel gehört zur zweiten Generation der türkischen Gastarbeiter in Berlin. Für ihn sei die Wiedervereinigung nicht unbedingt ein Glücksfall gewesen, sagt er – und ist damit kein Einzelfall. Von Elise Landschek
Als die Mauer fällt, fährt Orhan Yüksel mit Freunden und einer Flasche Sekt zum Kurfürstendamm. "Wildfremde Menschen lagen sich in den Armen, wir haben gefeiert und konnten es gar nicht glauben", erinnert er sich. Yüksel ist damals 22 Jahre alt, zwanzig Jahre zuvor waren seine Eltern mit ihm aus der Türkei nach Berlin-Kreuzberg gezogen.
Orhan Yüksel wächst in der Gegend rund um den U-Bahnhof Schlesisches Tor und die Oberbaumbrücke auf. Hier ist Grenzgebiet, die Mauer schlängelt sich quer durch das Wohngebiet, auf der Spree patrouillieren Militärboote. "Für uns war es völlig normal, dass die Mauer direkt vor unserer Nase stand. Aus unserer Kindersicht war sie schon immer da, und wir haben überhaupt nicht darüber nachgedacht, warum", erzählt Orhan Yüksel heute und lacht.
Seine Mutter arbeitet in einer West-Berliner Wäscherei, der Vater in einer Möbelfabrik. Beide haben ein gutes Auskommen, der deutsche Staat freut sich über die dringend benötigten zusätzlichen Arbeitskräfte. Anfang der Siebziger Jahre leben in Westberlin etwa 60.000 Türken, die im Zuge des Anwerbeabkommens Deutschlands mit der Türkei gekommen sind.
Doch kurze Zeit nach dem Mauerfall ist die Euphorie der ersten Tage bei Yüksel und vielen seiner türkischen und arabischen Freunde verflogen. Viele Firmenchefs im West-Teil Berlins verlegen nach 1989 ihre Standorte in den billigeren Osten, Gastarbeiter verlieren ihren Job. "Die Stimmung war im Keller bei uns", sagt Orhan Yüksel. Die Statistiken der damaligen Ausländerbeauftragten zeigen: Während die Arbeitslosenquote bei Ausländern zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung noch bei etwa elf Prozent lag, stieg sie in den nächsten zwei Jahren auf über 20 Prozent.
Auch er habe wegen der Wiedervereinigung seinen Arbeitsplatz als Fahrer in einem Teppichgroßhandel verloren, sagt Yüksel, wenn auch mittelbar. Sein Chef habe vier Ostdeutsche eingestellt, die sich ohne Widerrede zu Dumping-Löhnen ausbeuten ließen. Das habe für alle zu schlechteren Arbeitsbedingungen geführt - da sei er gegangen. Vor allem habe es aber seine älteren türkischen Bekannten hart getroffen. "Sie hatten Angst, dass die Türken von den neuen Deutschen ersetzt werden und dass sie auf der Straße landen."
Hinzu kommt der wachsende Fremdenhass in den 90er-Jahren. Yüksel nimmt vor allem den Hass in Ost-Deutschland wahr, weniger die Übergriffe, die es auch im Westen gab. Eines Tages habe er in Marzahn eine Lieferung abgeben wollen und in einer Kneipe nach dem Weg gefragt. "Ich hatte wilde schwarze Locken damals, man sah mir den 'Ausländer' sofort an", erinnert er sich. Alle Gespräche seien sofort verstummt, man habe ihn hasserfüllt angestarrt, erzählt er.
Als er dann die Bilder der rechtsextremen Überfälle in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda gesehen habe, sei ihm der Gedanke gekommen, man müsse die Mauer wieder aufbauen. "Nur kurz habe ich das gedacht. Aber ich gebe zu, ich war so wütend, der Gedanke ist mir tatsächlich gekommen."
Heute leitet Orhan Yüksel eine türkische Bäckerei am Schlesischen Tor nahe der alten Grenze, unweit von seiner Ladentür steht noch ein alter Wachturm aus DDR-Zeiten. Er fahre allerdings so gut wie nie in den Osten der Stadt, sagt er. Die hasserfüllten Blicke von früher könne er bis heute nicht verzeihen.
Beitrag von Elise Landschek
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