Kritik | Mauerfall-Show am Brandenburger Tor
Zugezogene, Touristen, Berliner und Menschen aus der ehemaligen DDR: Sie alle wollen die große Show zum 30. Mauerfall-Jubiläum sehen. Doch nicht alle werden reingelassen, "aus Sicherheitsgründen". Gänsehautmomente finden derweil abseits der Bühne statt. Von Mark Perdoni
Die ersten authentischen Eindrücke vom 9. November 1989 bekommen die Besucher bereits, bevor sie das Festgelände am Brandenburger Tor überhaupt betreten. Hunderte Menschen schieben sich eng aneinander gedrückt Richtung Eingang an der Ebertstraße. "Hört auf zu mauern!", ruft ein Mann mit sarkastischem Unterton den Sicherheitsmitarbeitern entgegen. "Das schaue ich mir lieber zu Hause im Fernsehen an", brummt eine ältere Frau und dreht enttäuscht um.
Mit diesem großen Andrang bei der Mauerfall-Jubiläumsparty am Samstagabend hatten die Veranstalter offenbar nicht gerechnet, nach eigenen Angaben sollen es weit mehr als 100.000 Menschen sein. Bereits am späten Nachmittag werden auf Anordnung der Bundespolizei am S-Bahnhof Brandenburger Tor die Ein- und Ausgänge Wilhelmstraße und Pariser Platz geschlossen, später gibt es an den oberen Eingangstoren zum Festgelände an der Ebertstraße kein Durchkommen mehr. "Zu 100 Prozent gefüllt", so die Ansage aus den Polizei-Lautsprechern. Es wird geraten, sich in Richtung "Großer Stern" zu begeben, wo ein Einlass noch möglich ist. Der ist viele hundert Meter weit entfernt.
Also müssen Tausende zunächst einen langen Umweg durch den dunklen Tiergarten laufen, an dessen Ende sie vor Zäunen steckenbleiben, die sie von der Straße des 17. Juni trennen. Und so kommt es zu Szenen, die am 30. Jahrestag des Mauerfalls symbolträchtiger nicht sein könnten - und unweigerlich an die in den vergangenen Tagen inflationär gebrauchten Archivaufnahmen von den überlaufenen Grenzübergangen zwischen dem damaligen Ost- und West-Berlin erinnern: Waghalsig klettern Menschen über die Zäune an den Rändern des Tiergartens, darunter auch welche in weit fortgeschrittenem Alter. Viele lachen ob der skurrilen Situation, andere sind ängstlich oder sichtlich genervt.
Auch auf der Straße des 17. Juni kommen die Besucher zunächst nur schwer voran, Sicherheitskräfte an Schleusen tasten stichprobenartig ab. Und weiter vorne ist wieder alles abgesperrt: "aus Sicherheitsgründen", wie es heißt, dürfen zunächst keine weiteren Besucher mehr nach vorne zum Brandenburger Tor. Erst am späten Abend werden nach und nach weitere Gäste nach vorne gelassen.
Bei kühlen Temperaturen um vier Grad wird ihnen ein sportliches Programm geboten. Auf zwei großen Bühnen - durch einen leuchtenden Erdball getrennt, der teils mit historischen Bildern bestrahlt wird - wechseln sich politische Botschaften mit musikalischen Einlagen ab: Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) erinnert daran, wie wertvoll unsere Freiheit ist, nachdem Dirk Michaelis die Wendehymne "Als ich fortging" ins Mikro haucht. Der Chemnitzer Trettmann rappt von "Stolpersteinen", Daniel Barenboim lässt seine Berliner Staatskapelle alle vier Sätze von Beethovens Fünfter präsentieren, Westbam ist mit Technoklassikern aus Loveparade-Zeiten dabei und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier warnt vor "neuen Mauern in der Gesellschaft".
Von diesen ist im Publikum an diesem Abend nichts zu spüren. Und so ist es auch nicht das dramaturgisch etwas überladene Bühnenprogramm, das für eine deutlich gewissenhaftere Atmosphäre sorgt, als bei Fanmeilen-artigen Veranstaltungen wie dieser vor dem Brandenburger Tor üblich. Es sind die einzelnen Geschichten der Besucher, denen man - ohne sie alle zu kennen - anmerkt, dieses historische Ereignis Mauerfall aufrichtig würdigen zu wollen.
"Ich war Silvester '89 hier am Brandenburger Tor, beim 20. Mauerfall-Jubiläum, und jetzt wollte ich unbedingt auch wieder hier sein", erzählt Barbara aus Schönebeck (Elbe). Für die 76-Jährige sei der Mauerfall auch noch aus heutiger Sicht "eine wunderbare Sache, auch wenn meiner Meinung nach wirtschaftlich ein paar Fehler gemacht wurden."
Andreas (41) aus Frankfurt am Main verbindet die Geschichte des Lebensgefährten seiner Mutter mit dem Mauerfall. "Er ist aus dem Osten geflohen". Die deutsche Wiedervereinigung sei so eine Wiedervereinigung seiner Familie gewesen. Sabine (46) erzählt ihren Kindern davon, wie sie kurz nach dem Mauerfall heimlich ein paar Brocken aus der Mauer geschlagen habe.
Aber nicht nur Menschen, die den Mauerfall miterlebt haben, sind zum Brandenburger Tor gekommen. Der 20-jährige Kilian aus Berlin-Charlottenburg steht mit seiner Freundin Marie-Helene unter den 100.000 wehenden Stoffstreifen, die teils mit Wünschen und Hoffnungen von Berlinern beschrieben sind. "Meine Eltern kommen aus Trebbin", sagt die 19-Jährige. "Ohne den Mauerfall hätte ich Kilian bestimmt nie kennengelernt."
Beitrag von Mark Perdoni
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