Gastbeitrag von Ines Geipel
Was heißt es überhaupt, ostdeutsch zu sein? Die Autorin und ehemalige Leistungssportlerin Ines Geipel hat sich für das Projekt "Wir Ostdeutsche" dieser Frage gestellt. Sie wünscht sich mehr Stolz auf die Revolution. Gastbeitrag von Ines Geipel
Wie berechtigt ist es, im Jahr 30 der Deutschen Einheit noch über die "Ostdeutschen" oder die "Westdeutschen" zu sprechen?
Im Rahmen des rbb/MDR-Projektes "Wir Ostdeutsche" wurden meinungsstarke ostdeutsche Persönlichkeiten darum gebeten, ihre ganz eigene Erfahrung mit dem "Ostdeutschsein" aufzuschreiben - und einen Blick auf 30 Jahre Wiedervereinigung und in die Zukunft zu werfen.
Wir veröffentlichen hier einen Gastbeitrag von Ines Geipel. Weitere Beiträge der Musikerin Sookee und des Gründers Sven Gabor Janszky folgen.
Die TV-Doku läuft am Montag (28.09.) um 20.15 Uhr im Ersten und ist bereits in der ARD-Mediathek zu finden.
Immer Ende August, wenn das Licht gen Herbst dreht, laufe ich aus dem Osten weg. Dann geht mein Flucht-Ich auf Erinnerung und will noch einmal über Ungarn in den Westen. Sommer 1989: das tagelange Warten in Budapest, der Vorortzug Richtung Sopron, mein Hasten durch den Grenzwald, die Angst. Das Ankommen da, wo ich nicht willkommen war. Der Westen wollte den Osten nicht. Er war vollständig, die Revolution unnötig. Noch dazu war man sich über die Zeit hin zum stabilen Feindbild geworden. Wozu daran rütteln? Es stand doch fest, schien auf ewig gemacht. Schon deshalb hört sich das Dauerlamento von der Kolonisierung, den Abgehängten, der Übernahme des Ostens, das mittlerweile zum Kern einer neuen Identitätsschule Ost geworden ist, in mir sturzfalsch an. Es ist ein Konstrukt, eine bequeme Denkblase und stellt die Verhältnisse auf den Kopf.
Mein Ostdeutschsein hat auch nach 30 Jahren Mauerfall noch eine raue Haut, ist eine Wunde. Vielleicht sollte ich der Einfachheit halber sagen, es ist in Bewegung, in Unruhe. In ihm existiert nicht der direkte Weg von A nach B, gibt es nicht den einen abgeklärten Satz. In ihm gibt es die Freunde, Begegnungen, Themen, Texte. In ihm gibt es Landschaften, die nicht schöner sein könnten: die Ostsee, der mecklenburgische Himmel, der Thüringer Wald. Städte, die real und zugleich innere Landschaften sind: Berlin, Dresden, Jena. Das ist Herkunft, Prägung, eigene Geschichte. Ich bin von da.
Meine einschneidendsten Erfahrungen haben mit dem Osten zu tun. Sie bleiben drin. Das ist so. Unhintergehbar. Aber Prägung ist auch Bindung. An etwas, das da ist, auf sich besteht und das zerrt, weil es vom Grundsatz her nicht gut ist. Es ist nicht einfach, darüber zu schreiben. Wir hocken mitten in der Geschichte. Es kommt rasch zu Missverständnissen. Irgendwann haben wir angefangen, immer komplizierter über uns zu sprechen. Es ist ja kompliziert. Warum nicht sorgsam miteinander umgehen.
Ohne Frage ist der Osten nach 1989 komplett umgebaggert worden. Er hat sich gehäutet und völlig neu aufgestellt. Ohne Frage sind wir heute alle in einem anderen Ostdeutschsein unterwegs, in einer eigenen inneren Baggerlandschaft. Aber das aufgelassene Erbe des Ostens findet keinen Ort, keinen Konsens-Punkt. Es bleibt ein schwarzes Loch. Warum eigentlich? Was fehlt, ist noch immer die historische Zuordnung. Was fehlt, ist der wirkliche Blick auf die ostdeutsche Erfahrungswucht, die offenbar auch deshalb beliebig überschrieben werden kann. Es herrscht ein nahezu heilloses Tohuwabohu.
Das Bild der Baggerlandschaft und die vielen Bilder in ihr. Hoyerswerda, Rostock Lichtenhagen, Mügeln, Köthen, Clausnitz, Freital, Heidenau. Einer Studie zufolge ist es für Asylsuchende zehnmal gefährlicher in Ostdeutschland zu leben als im Westen. Der NSU, die Gruppe Freital, das Inferno Cottbus. Wir haben zu zählen gelernt, setzen Gewalt ineinander, als sei sie einzig ein endloser Bilderstrom. Wir richten uns ein, mit grassierendem Rassismus im Osten, mit rechter Gewalt, mit Neid und Hass, als sei all das da wie das Wetter. Sie sind die lauten Einheitsgewinner.
Doch wohin mit all den explosiven, verstörenden, toxischen Suchbildern? Wie weiter? Worauf verständigen wir uns als Gesellschaft? Was ist unser No-Go? Mein Vorschlag: Für ihre schöne Revolution sollten die Ostdeutschen den Friedensnobelpreis erhalten. Sie haben eine Revolution gemacht, die die Welt verändert hat. Es ist der glücklichste Moment der deutschen Geschichte. Etwas, das Frankreich, Kanada, Neuseeland liebend gern kapern würden. Denn wer hat das schon zu bieten?
Mein Ostdeutschsein will, dass daraus so etwas wie Gewissheit und Stolz entsteht. Dass es uns gelingt, unsere so mürbe machenden destruktiven Kraftfelder zu überwinden. Dass wir den Opfern der ostdeutschen Diktatur endlich die Hand reichen. Dass auch die in Ostdeutschland zu Hause sind, die erst 1993 in Spanien oder etwa 2002 in Marokko geboren wurden. Sie sollen sich nicht abgewiesen fühlen müssen, weil sie in Leipzig oder wo auch immer im Osten zu hören bekommen, ihr Kommen sei eine Art kultureller Aneignung.
Schön, dass Ihr da seid!
Der Gastbeitrag von Ines Geipel entstand im Rahmen des rbb/MDR-Projektes "Wir Ostdeutsche". Kommentare und Diskussionsbeiträge, die sich direkt an die Gast-Autorin richten, können Sie senden an dokuzeit@rbb-online.de.
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Beitrag von Ines Geipel
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