Koalitionsverhandlungen in Berlin
Kaum war die rot-rot-grüne Koalition vor fünf Jahren gestartet, schockte der Anschlag vom Breitscheidplatz die Sicherheitsbehörden. Unter Mühen wurde das Polizeigesetz refomriert. Rot-Grün-Rot muss die Änderungen jetzt erst richtig umsetzen. Von Christoph Reinhardt
Fast bis zum Schluss der Legislaturperiode musste sich Rot-Rot-Grün plagen, um das Berliner Polizeigesetz ASOG (Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsgesetz) doch noch zu verabschieden. In den jahrelangen zähen Verhandlungen um das Reformpaket hätte sich die Koalition beinahe aufgerieben.
Vor allem die SPD wollte nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz den Sicherheitsbehörden mehr Befugnisse verschaffen. Linke und Grüne hielten dagegen und verhinderten beispielsweise die anlasslose Videoüberwachung an kriminalitätsbelasteten Orten, die Einführung der elektronischen Fußfessel oder den Einsatz von Staatstrojanern bei Terrorverdacht. Auch sie mussten dafür schmerzhafte Kompromisse eingehen. Das mühsam austarierte Gleichgewicht wird auch die nächste Koalition nicht gleich wieder in Frage stellen - soweit herrscht Einvernehmen.
Allerdings: Mit Franziska Giffey haben die Sozialdemokraten eine Frau an die Spitze gestellt, die seit ihrer Zeit im Neuköllner Bezirksamt ausdrücklich für eine härtere innenpolitische Linie steht. Schon für ihre politische Glaubwürdigkeit muss Giffey den beiden Koalitionspartnern gewisse Zugeständnisse abringen. Beispiel Videoüberwachung: Während die Linken mit einer "erheblichen Reduzierung" Wahlkampf gemacht haben und die Grünen zumindest die Ausweitung verhindern wollen, betont die SPD den Nutzen einer "temporären und anlassbezogenen" Videoüberwachung. Wie die richtige Dosis für Berlin aussieht, darüber waren sich die Koalitionspartner noch nie einig – so dass der Koalitionsvertrag an dieser Stelle wohl kaum mehr als einen Formelkompromiss enthalten wird.
Beide Seiten werden aber mit dieser Spannung leben können. Vorteil SPD: Solange sie den Innensenator stellt, sitzt der zumindest bei der praktischen Umsetzung am längeren Hebel. Vorteil Linke und Grüne: Solange das Polizeigesetz so bleibt wie es ist, ändert sich an den großen Linien nichts. Einfach machen kann es sich Rot-Grün-Rot bei einigen liegengebliebenen Projekten. Der oder die Polizeibeauftragte soll sich künftig mit einer eigenen kleinen Behörde um Bürgerbeschwerden kümmern. Allerdings konnte sich die Koalition bis zuletzt nicht auf eine konkrete Person einigen. Auch die Nachfolge der Datenschutzbeauftragten muss noch entschieden werden. Was die Einigungsfähigkeit der Koalition im Vorwahlkampf noch überforderte, sollte im Rahmen des großen Stühlerückens nach der Wahl deutlich einfacher sein.
Politisch anspruchsvoller als die offenen Personalfragen wird die Reform des Verfassungsschutz-Gesetzes. Noch im Wahlkampf forderten die Linken die komplette Abschaffung der "Abteilung II", auch die Grünen wollen eigentlich den Verfassungsschutz in seiner jetzigen Form abschaffen. Ganz anders die SPD, die von der Notwendigkeit der Behörde überzeugt ist und deren Innensenator in den letzten fünf Jahren die Abteilung kräftig nach seinen Vorstellungen umgebaut hat.
Trotz ihrer Unzufriedenheit werden Linke und Grüne der SPD wohl ihren Willen lassen – und dem Verfassungsschutz seine Befugnisse. Die Brücke, über die alle Parteien gehen können, sind Regeln für eine "schärfere parlamentarische Kontrolle". Wenn die Koalition das Verfassungsschutzgesetz aufmacht, darin besteht allseits Einigkeit, sollen die Erkenntnisse des Untersuchungsausschusses zum Anschlag auf dem Breitscheidplatz eingearbeitet werden. Dazu gehört unter anderem, dass der Verfassungsschutz seine Erkenntnisse genauer dokumentieren und mit anderen Behörden teilen muss.
Die größere Herausforderung der rot-grün-roten Innenpolitiker als ihre übrig gebliebenen fachlichen Differenzen dürfte die Priorisierung ihrer Wünsche im Verhältnis zu denen anderer Ressorts liegen. Letztlich muss die Dachgruppe den Rahmen festlegen, wie die knapper werdenden Mittel verteilt werden. Und so manche innenpolitische Schlacht dürfte in den nächsten Jahren im für die Finanzen zuständigen Hauptausschuss bzw. bei den Haushaltsberatungen geschlagen werden: Schon in der letzten Legislaturperiode wurden die maroden Polizei- und Feuerwachen zugunsten der Schulbauoffensive zurückgestellt. Ob nun auch der Sanierungsstau bei den Sicherheitsbehörden drankommt, ist angesichts der knapper werdenden Mittel fraglich.
Auch beim Personal wird die Koalition Prioritäten setzen müssen, um die richtigen Mitarbeiter für den Sicherheitsbehörden zu gewinnen bzw. zu halten. Für den geplanten politischen Schwerpunkt bei der Bekämpfung der Organisierten Kriminalität bzw. der Wirtschafts- und Finanzkriminalität braucht Rot-Grün-Rot nicht nur spezialisierte Ermittler im Landeskriminalamt und bei der Staatsanwaltschaft, sondern auch dringend mehr IT-Spezialisten. Politische Absichtserklärungen wie "Überstunden abbauen", "die Vereinbarkeit von Beruf und Familie fördern" sind leicht im Koalitionsvertrag zu vereinbaren, aber nur schwer umzusetzen. Angesichts der Pensionierungswelle steht und fällt die innere Sicherheit mit der Fähigkeit des Senats, die freiwerdenden Stellen nachzubesetzen. Verglichen mit dieser Herausforderung dürften die seit Jahren gepflegten Konflikte zwischen SPD, Grünen und Linken leicht zu beherrschen sein.
Sendung: Inforadio, 20.11.2021, 10:05 Uhr
Beitrag von Christoph Reinhardt
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