Schulden, Drogen, BER - Berlin hat es immer wieder geschafft, seine offensichtlichen Mängel als Folklore abzufeiern. Doch für die Pannen-Wahl am 26. September gibt es keine typischen Berlin-Ausreden mehr, kommentiert Sebastian Schöbel.
Manchmal möchte man am liebsten vergessen, dass Berlin die Hauptstadt der Bundesrepublik Deutschland ist. Immerhin die mächtigste Volkswirtschaft der Europäischen Union. Und ein höchst ambitionierter Einwechselspieler auf der Reservebank der großen Weltpolitik.
Denn diese Stadt wandelt bedenklich nahe am steilen Abgrund der bodenlosen Peinlichkeit. Dass hier jahrelang Spätverkaufsstellen illegal an Sonntagen geöffnet blieben und inzwischen als "Spätis" Teil der liebenswerten Kiezkultur geworden sind: geschenkt.
Falsche oder zu wenige Wahlzettel, Stimmabgaben weit nach 18 Uhr: Der Landeswahlausschuss räumt Fehler bei der Wahl am 26.September ein. In mehr als 200 Wahllokalen kam es zu Pannen. Landeswahlleiterin Michaelis will nun selbst Einspruch einlegen.
Deutscher Bau-Humor mittlerweile weltberühmt
Dass die Stadt ihre Milliardenschulden frech zum Slogan "arm aber sexy" zur Selbstvermarktung ummünzte: Wurscht.
Schulen ohne Lehrkräfte und schnelles Internet, Drogen-Halligalli in Parks, Bürgerämter mit wochenlangen Wartezeiten, Clan-Chefs mit eigener Schrebergartenkolonie, Polizisten mit Rechtsdrall in Online-Chats, Linksextremisten als gefeierte Hausbesetzer, Dauerbaustellen, Bürokratiechaos... Berlin halt.
Sogar den Pannen-Flughafen BER kann der Stadt eigentlich niemand mehr übelnehmen: Noch nie hat ein Infrastrukturprojekt der Nation über so viele Jahre so viele gute Witze beschert. Sogar das Ausland konnte über diesen deutschen Bau-Humor lachen.
Berlin als selbstbewusste Göre
Berlin ist halt nicht wie diese alles überstrahlenden, übermächtigen und arroganten Metropolen wie New York, Paris oder London. Berlin ist eine selbstbewusste Göre mit kantigem Dialekt, die an einem kleinen Fluss wohnt, umringt von märkischem Sand, und die der despektierlich schauenden Welt den Mittelfinger zeigt. Irgendwie cool. Irgendwie nervig.
Aber das mit der Pannen-Wahl am 26. September - das lässt sich nicht mehr als Berliner Folklore abfeiern. Das war ein politisches und behördliches Versagen.
Dass Zehntausende freiwillige Wahlhelfer Hunderte kleine Fehler machen, ist nicht das Problem. Eine falsche Zahl hier, ein falsches Häkchen da: alles zu verschmerzen.
Fast drei Wochen nach dem Wahltag ist das Ausmaß der Wahlpannen in Berlin weiter unklar. Die Zuständigen schieben sich gegenseitig den Ball zu und schotten sich ab. Der Regierende Bürgermeister gefährdet mit seiner Beurteilung ein wichtiges Wahlprinzip. Von Dominik Ritter-Wurnig
"Nur" 207 der 2.257 Wahllokale betroffen
Aber nicht das hier: falsche Stimmzettel, fehlende Stimmzettel, nicht ausgegebene Stimmzettel, überfüllte Wahllokale, geschlossene Wahllokale, abgewiesene Wähler.
Dass "nur" 207 der 2.257 Wahllokale betroffen waren, ist so eine typische Berlin-Ausrede. "Kiekste ma, war doch nicht so schlimm!"
Doch, war es. Und zwar auch, weil sich etliche derer, die für diesen Schlamassel verantwortlich waren, hinter der Landeswahlleiterin verstecken. Und weil nun ausgerechnet diejenigen Populisten, die unsere Demokratie untergraben wollen, die Argumente frei Haus geliefert bekommen.
Am schlimmsten aber ist der mögliche Vertrauensverlust der wählenden Berlinerinnen und Berliner in die demokratischen Prozesse ihrer Stadt. Fast jeder Unsinn kann an der Spree verziehen werden. Aber Wahlen MÜSSEN ordnungsgemäß funktionieren. Auch in Berlin.