Knappe Ergebnisse in Berliner Wahlbezirken
Nach der Chaos-Wahl wird in mehreren Wahlbezirken nachgezählt. Der Grund: sehr knappe oder sehr auffällige Ergebnisse. Eine Nachzählung hat bereits jetzt Folgen. So hat eine SPD-Politikerin in ihrem Bezirk ihr Direktmandat verloren.
Aufgrund von knappen Ergebnissen nach der Abgeordnetenhauswahl in einigen Berliner Wahlkreisen werden die Stimmen in mehreren Bezirken neu ausgezählt.
Auf Bitten der CDU-Politikerin Emine Demirbüken-Wegner lässt beispielsweise der Berliner Bezirk Reinickendorf die Erststimmen für die Abgeordnetenhauswahl im Wahlkreis 2 nachzählen. Mit gerade mal 42 Stimmen Vorsprung soll ihr sozialdemokratischer Konkurrent Jörg Strödter den Wahlkreis bei der Wahl für das Abgeordnetenhaus gewonnen haben.
Aber allein rund 300 Stimmen sind ungültig, und schon angesichts der zahlreichen bekannt gewordenen Pannen will Demirbüken-Wegner klären lassen, ob sie nicht doch ins Berliner Abgeordnetenhaus einziehen kann. "Ich kann das noch immer nicht begreifen, dass das hier passiert ist", sagt sie. "Ich habe den Wahlkreis schon zweimal direkt gewonnen, aber so etwas wie dieses Mal kenne ich nicht."
Laut Bezirkswahlleiter Daniel Dreher wird es an diesem Freitag eine öffentliche Nachzählung für den betroffenen Reinickendorfer Wahlkreis geben, es geht dabei um Ergebnisse aus 39 Urnen und Briefwahllokalen. Außerdem soll in drei Briefwahllokalen die Abstimmung zum
Volksentscheid nachgezählt werden. Dabei sei der Anteil an ungültigen Stimmen "auffällig hoch" gewesen. In einem Briefwahllokal werden die Erst- und Zweitstimmen für den Bundestag nachgezählt.
Nicht nur in Reinickendorf, sondern in der ganzen Stadt stehen nun Nachzählungen an. In den ersten Bezirken haben sie am Donnerstag begonnen. Allein in Steglitz-Zehlendorf werden 34 Stimmbezirke neu ausgezählt, zwei Drittel betreffen die Briefwahl. Weitere Nachzählungen dürften folgen: Die Niederschriften aus den Wahllokalen seien in diesem Jahr in einem auffällig schlechten Zustand, sagte der Bezirkswahlleiter. Üblich seien insgesamt pro Wahl rund 30 Nachzählungen.
Im Rathaus Pankow geht es zunächst um acht Stimmbezirke, dazu kommen alle Erststimmen aus Wahlkreis 3. Dem amtierenden Kultursenator Klaus Lederer von den Linken fehlen in seinem Pankower Wahlkreis lediglich 30 Stimmen auf Grünen-Kandidatin Oda Hassepaß. Lederer hatte deswegen eine Nachzählung verlangt, die am Freitag durchgeführt wurde. "Im Zuge der Nachzählungen ergaben sich keine mandatsrelevanten Veränderungen", teilte der Leiter des Bezirkswahlamts Marc Albrecht dem rbb auf Anfrage mit. Die genauen Ergebnisse würden aktuell noch anhand der ausgefüllten Niederschriften überprüft, um dann im Bezirkswahlausschuss am 11. Oktober 2021 verkündet zu werden.
Besonders knapp war es in Charlottenburg-Wilmersdorf: Den Grünen Alexander Kaas Elias trennten nur acht Stimmen von seiner SPD-Konkurrentin Franziska Becker. Die Nachzählung hat nun am Freitag ergeben, dass tatsächlich Kaas Elias mit 23 Stimmen vor Becker liegt. Das teilte das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf auf seiner Internetseite mit.
Der Grünen-Politiker habe 6.399 Erststimmen erhalten, die Zweitplatzierte Franziska Becker 6.376 Stimmen. Damit zieht nun Alexander Kaas-Elias für die Grünen als direkt Gewählter ins Abgeordnetenhaus. Doch auch Becker wird voraussichtlich im Landesparlament sitzen können, da sie über einen Listenplatz ihrer Partei abgesichert ist.
Knapp ging es auch in anderen Wahlbezirken zu. In Marzahn-Hellersdorf trennten Gunnar Lindemann von der AfD und Gordon Lemm von der SPD nur 70 Stimmen. In Lichtenberg siegte Martin Pätzold von der CDU mit nur 76 Stimmen. Und in Pankow lag der Grünen-Politiker Louis Krüger mit nur 178 Stimmen Vorsprung vorn.
Wahlleitungen prüfen allerdings durchaus auch aus eigenem Antrieb, ob Stimmzettel neu ausgezählt werden müssen. Etwa, wenn es Auffälligkeiten gibt. Wahlkreis 206 in Steglitz-Zehlendorf ist nur ein Beispiel: In der Grundschule am Insulaner hatten rund 450 Menschen ihre Stimmen abgegeben. Davon ungültige Erststimmen: 402, fast 90 Prozent.
Bei den Zweitstimmen gab es aber gerade mal vier ungültige. Ein Fall für die beiden Prüf-Teams, die der Bezirkswahlleiter zur Verfügung hat. Sie werten systematisch alle Niederschriften aus den Wahllokalen aus, rechnen nach, korrigieren Übertragungsfehler - oder, wenn sich die Widersprüche anders nicht auflösen lassen, veranlassen sie eine Nachzählung.
Auch im Bezirk Tempelhof-Schöneberg wurden am Donnerstag alle Stimmzettel von drei Wahlbezirken neu ausgezählt. Konkrete Gründe wurden nicht genannt. Das Wahlamt des Bezirks verwies lediglich allgemein darauf, dass bei Anhaltspunkten für Fehler bei der Auszählung in den Wahllokalen oder bei der Übermittlung der Wahlergebnisse "soweit erforderlich eine Nachzählung einzelner oder aller versiegelter Stimmzettelbündel des betroffenen Wahlbezirks" vorgeschrieben sei.
Besonders schlimm aber hat es Friedrichshain-Kreuzberg erwischt. Bei einigen Lieferungen in die Wahllokale waren Exemplare für Charlottenburg-Wilmersdorf unter die Stimmzettel geraten. "Ich war am Sonntag Wahlvorsteher in einem Wahllokal in Kreuzberg. Wir hatten falsche Stimmzettel", berichtete Wahlhelfer Arne Baumann dem rbb. Erst gegen 9:30 Uhr sei der Fehler aufgefallen, da hätten schon 13 Wählende mit einem falschen Stimmzettel abgestimmt. Die sind nun ungültig. Wie viele Menschen insgesamt betroffen waren, ist bis heute unklar. Offenbar ein Fehler bei der Lieferung an den Bezirk.
Am Mittwoch hatte Landeswahlleiterin Petra Michaelis die Konsequenzen aus der massiven Kritik gezogenund ihr Amt zur Verfügung gestellt.
Eine Analyse des rbb|24-Datenteams zeigt auffallend viele ungültige Stimmen in 99 der mehr als 2.200 Berliner Wahlbezirke, mehr als 13.000 Stimmen sind davon betroffen. Der genaue Umfang und mögliche konkrete Auswirkungen der Pannen auf das Wahlergebnis werden zunächst dezentral aufgeklärt - und wohl noch eine Weile dauern.
Bis Ende nächster Woche haben die Bezirke Zeit, Unregelmäßgkeiten durch Nachrechnen oder Nachzählen zu klären. Am 14. Oktober muss dann der Landeswahlausschuss abschließend bewerten, ob gegebenenfalls Wiederholungswahlen fällig sind. Denn nicht jede Unregelmäßigkeit hat Einfluss auf das Ergebnis.
Beim Volksentscheid zur Enteignung großer Wohnungsunternehmen waren mit 85.000 zwar ungewöhnlich viele Stimmen ungültig. Doch selbst wenn all diese Stimmen eigentlich gegen den Volksentscheid zu werten wäre, würde das wegen des großen Vorsprungs der Einteignungsbefürworter am Ergebnis nichts ändern: Der Unterschied lag bei 319.495 Stimmen.
Sendung: Abendschau, 30.09.2021, 19:30 Uhr
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