Datenanalyse | Abgeordnetenhaus
Am 26. September wird das Abgeordnetenhaus gewählt – zum achten Mal seit 1990. Die Analyse zeigt, wie der Rückhalt der Regierungsparteien bei den Wählerinnen und Wählern gesunken ist und die Volksparteien ihre Dominanz verloren haben. Von Christoph Reinhardt (Text) und Götz Gringmuth-Dallmer (Daten)
Berlin ist auch mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch eine geteilte Stadt. Zumindest, wenn es danach geht, wie die Menschen im Westen und Osten der Hauptstadt wählen. Prägten CDU und SPD beziehungsweise PDS in den 1990er Jahren noch den Westen und Osten der Stadt, mit einem grünen Farbtupfer in Kreuzberg (heute: Friedrichshain-Kreuzberg), so hat sich das Bild bei den letzten Wahlen deutlich gewandelt. Vor fünf Jahren waren gleich fünf Parteien in mehreren Wahlkreise die stärksten.
Ein Blick auf eine bewegte Wahl-Geschichte des wiedervereinigten Berlins:
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Die Stunde Null der repräsentativen Demokratie im wiedervereinigten Berlin sind die Wahlen vom 2. Dezember 1990. Zum ersten Mal wählen die Berlinerinnen und Berliner ihr gemeinsames Landesparlament, parallel übrigens zum Bonner Bundestag. Über zwei Millionen Wahlberechtigte nehmen teil, nie wieder wurde seither eine so hohe Beteiligung erreicht.
Die politischen Verhältnisse scheinen klar: Der Westen geht an die CDU, der Osten an die SPD. Der ganze Osten? Nein. Zumindest in elf Wahlbezirken bekommt die Partei des Demokratischen Sozialismus PDS in Nachfolge der offensichtlich gar nicht so diskreditierten SED die meisten Wählerstimmen. Aber auch die CDU kann in Mahlsdorf beziehungsweise Kaulsdorf ihren östlichsten Wahlkreis erobern.
Den ersten Gesamtberliner Senat unterstützt eine große Koalition aus CDU und SPD. Das tut beiden Parteien nicht gut: 1995 fällt die Wahlbeteiligung unter 70 Prozent, die CDU verliert 190.000 Stimmen, die SPD sogar 220.000. Im Osten zieht die PDS an der SPD vorbei, in Kreuzberg erobern die Grünen Wahlkreis 2.
Allerdings: Die CDU bleibt stärkste Kraft, im Westen sowieso. Für eine bürgerliche Koalition reicht es aber wieder nicht, die FDP scheitert an der 5-Prozent-Hürde. Die große Koalition regiert weiter, zum Ersten, zum Zweiten und …
… zum Dritten. Auch 1999 dominiert die CDU den Westen, die PDS ist im Osten unangefochten. Aber die Wahlbeteiligung? Sinkt weiter. Und die SPD? Verliert weiter. Die Probleme häufen sich. Während der dritten großen Koalition in Folge steigt die Berliner Verschuldung immer weiter, 270.000 Menschen sind arbeitslos gemeldet. Nur der CDU und ihrem Regierenden Bürgermeister Eberhard Diepgen scheint das nichts anhaben zu können …
… bis 2001 die sogenannte Bankenaffäre die große Koalition zum Platzen bringt. Die CDU verliert nicht nur ihr langjähriges Führungspersonal, sondern über ein Drittel ihrer Wähler.
Plötzlich ist die SPD die stärkste politische Kraft und bereit, ein politisches Tabu zu brechen. SPD und PDS schließen die erste rot-rote Koalition. Sie sparen, bis es quietscht – aber trotzdem steigt die Verschuldung bis 2006 über 60 Milliarden Euro, die Wahlbeteiligung fällt unter 60 Prozent.
Der anschließende Wahlerfolg für die SPD ist relativ: Zwar büßt 2006 auch Klaus Wowereits SPD an absoluten Wählerstimmen ein, aber noch mehr verliert die völlig zerstrittene CDU. Die PDS stürzt regelrecht ab – das Mitregieren bekommt der Regionalpartei Ost offensichtlich nicht.
Die Grünen nutzen diese Chance. Während die SPD viele PDS-Wahlkreise im Osten übernehmen kann, brechen die Grünen aus Kreuzberg aus und besetzen weitere Innenstadt-Wahlkreise und -Bezirke.
1990 waren die Alternative Liste (West) und Bündnis 90/Grüne (Ost) noch getrennt angetreten und wären ohne Sonderregelung für die beiden Stadthälften an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert.
2006 konkurrieren die Grünen zum ersten Mal mit der PDS um den dritten Platz hinter den beiden (immer kleiner werdenden) Volksparteien SPD und CDU. 2011 erreichen sie zwar ihr bisher bestes Ergebnis, sind nach der Wahl aber enttäuscht. Denn in den Umfragen hatte es zwischenzeitlich so ausgesehen, als könnten die Grünen eine Regierende Bürgermeisterin, Renate Künast war Spitzenkandidatin, stellen.
Nicht einmal für eine Regierungsbeteiligung reicht es: Die SPD verliert zwar erneut, bleibt aber immer noch stärkste Kraft – und entscheidet sich für eine Koalition mit der CDU.
Schon wieder eine Große Koalition? So groß wie früher ist sie gar nicht mehr. 1990 hatten noch über 1,4 Millionen Wähler für CDU und SPD gestimmt. Nun können die beiden Parteien nur noch 750.000 Wähler hinter sich bringen. Das genügt der SPD, um weiter den Regierenden Bürgermeister zu stellen. Und die CDU hofft, sich im Senat mit Innen- und Wirtschaftspolitik zu profilieren und möglichst bei den nächsten Wahlen wieder an alte Stärke anzuknüpfen.
Aber obwohl die Arbeitslosigkeit und die Zinslast endlich zu sinken beginnen, kann auch Rot-Schwarz die Berliner nicht überzeugen. Die Flughafen-Dauerbaustelle, das Flüchtlingschaos beim Lageso, Personalquerelen – vor allem der permanente interne Streit zermürbt die Koalition. Am Ende verlieren beide Parteien.
Die Berliner CDU hat in der Flüchtlingskrise dem Aufstieg der AfD nichts entgegenzusetzen und erzielt 2016 ihr bisher schlechtestes Wahlergebnis. Einzig im Nordwesten in Reinickendorf und im Südwesten in Steglitz-Zehlendorf ist die CDU seit 1990 durchgängig stärkste Kraft.
Im Abgeordnetenhaus sind jetzt sechs Parteien vertreten. Die Piraten sind zwar nach nur einer Runde im Parlament gleich wieder draußen, dafür übernimmt die AfD zahlreiche Plätze in der Opposition. Auch die FDP ist nach fünf Jahren Pause wieder da, nachdem sie im Wahlkampf ganz auf die Offenhaltung des Flughafens in Tegel gesetzt hatte.
Die SPD braucht jetzt gleich zwei Partner, um ihren Regierenden Bürgermeister Michael Müller durchzubringen. Die Linke hat sich nach dem Rot-Rot-Trauma wieder erholt, die Grünen wollen schon lange regieren. Rot-Rot-Grün kann sich auf die Stimmen von rund 860.000 Wählern stützen – mehr Unterstützung hatte zuletzt die große Koalition von 1999.
Aber: Fast genauso viele Wahlberechtigte haben ihre Stimme gar nicht abgegeben. Nicht einmal jeder vierte Einwohner hat eine der drei Parteien gewählt, die Berlin regieren.
Beitrag von Christoph Reinhardt und Götz Gringmuth-Dallmer
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