Interview | Wahlforscher Heiko Giebler
Der Politikwissenschaftler Heiko Giebler erwartet für den Superwahltag in Berlin eine hohe Wahlbeteiligung. Seine Stimme unterschiedlichen Parteien zu geben, kann dabei seiner Einschätzung nach durchaus Sinn machen.
rbb|24: Wir haben am 26. September in Berlin - mit der Abstimmung über den Volksentscheid - eine vierfache Wahl. So viele Wahlgänge auf einmal gab es noch nie. Die Bundestagswahl wird wohl alle anderen Wahlgänge überstrahlen. Aber was bedeutet das für den Ausgang der Wahlen auf Bezirks- und Landesebene?
Heiko Giebler: Der größte Effekt ist sicher, dass sich die Wahlbeteiligung extrem erhöht. Das sehen wir eigentlich immer, wenn eine Hauptwahl gleichzeitig mit Nebenwahlen wie Landes- oder Bezirkswahlen stattfindet. Bei der Bundestagswahl ist die Wahlbeteiligung immer noch relativ hoch. Menschen werden jetzt an der Abgeordnetenhauswahl oder auch am Volksentscheid teilnehmen, die sonst vielleicht nicht wählen würden. Das ist erstmal eine gute Sache, wenn man über die Demokratie nachdenkt.
Die Menschen, die sozusagen zusätzlich an der Abgeordnetenhauswahl teilnehmen, unterscheiden sich von denen, die immer zur Abgeordnetenhauswahl gehen. Diese zusätzlichen Wähler und Wählerinnen sind in der Regel Menschen, die sich weniger stark für Politik interessieren und auch weniger stabile Parteibindungen haben.
Niemand kann in die Glaskugel schauen: Aber welche Parteien könnten denn ihrer Einschätzung nach von der steigenden Wahlbeteiligung profitieren?
In der Regel Parteien, die auch interessant sind für sogenannte ungebundene Wählerinnen und Wähler und eben nicht nur auf ihre Stammwähler zurückgreifen. Das sind in der Regel durchaus auch die einstmals sehr großen, inzwischen etwas größeren Parteien, also vor allen Dingen die CDU oder die SPD. Es hängt aber sicherlich auch von Trends ab, wie sie gerade auf der Bundesebene laufen.
Die Mitte-Parteien können also eher mit einem Zustrom rechnen als die Parteien am Rand des politischen Spektrums?
Das sagt uns zumindest die Forschung. Normalerweise läuft es aber immer andersrum: Wenn nur eine Nebenwahl – wie die Wahl zum Abgeordnetenhaus - stattfindet, dann nehmen auch Personen teil, um den Großparteien oder Regierungsparteien so einen kleinen Denkzettel zu verpassen. Das läuft dann meistens zugunsten von Parteien in der Opposition und auch Parteien am ideologischen Rand des Spektrums. Klassisches Beispiel sind dafür die Europawahlen, wo oft auch relativ extreme Splitterparteien relativ gut abschneiden. Diese Effekte sollten sich eigentlich - zumindest, wenn sich das fortsetzt, was die Forschung zu dieser Thematik sagt - jetzt in Berlin eben nicht zeigen.
Die Spitzenkandidaten und -kandidatinnen sind bei der Abgeordnetenhauswahl mit einer Ausnahme von Franziska Giffey relativ unbekannt. Welche Rolle spielen sie bei einer Landtagswahl?
Schon seit vielen Jahren sehen wir den Trend der Personalisierung in der Politik. Die Kandidaten und Kandidatinnen spielen eine immer größere Rolle und das gilt im Prinzip für alle politischen Ebenen. Aber wenn man Bundestagswahl und Landtagswahl miteinander vergleicht, sind die Spitzenkandidatinnen und Kandidaten auf der Bundesebene immer viel, viel bekannter. Dann kann das auch - sowohl im positiven Sinne als auch im negativen Sinn - die Wahlentscheidung stärker beeinflussen. Bei Landtagswahlen sind meistens nur einzelne Kandidatinnen wirklich bekannt.
Setzt sich das dann nach unten fort, dass bei einer lokalen Wahl wie der zur Bezirksverordnetenversammlung (BVV), wo die Kandidaten noch unbekannter sind, die Partei eine wichtigere Rolle für die Wahlentscheidung spielt?
Wenn man an dieser Wahl teilnehmen möchte, dann muss man als Bürgerin oder Bürger irgendwie eine sinnvolle Entscheidung zu treffen. Oftmals kennt man die einzelnen Kandidaten und Kandidatinnen nicht. Da ist natürlich die Partei, für die eine Person antritt, ein einfacher Hinweis in welche Richtung es dann auch inhaltlich gehen wird. Man könnte schon sagen, je geringer der Informationsstand über die zur Wahl stehenden Personen ist, desto eher spielt dann die Parteizugehörigkeit der kandidierenden Personen eine Rolle.
Das Stimmensplitting zwischen Erst- und Zweitstimme ist ein bekanntes und gut dokumentiertes Phänomen. Vor allem Wähler und Wählerinnen kleinerer Parteien wählen häufig mit der Erststimme eine Person, die einer anderen Partei angehört. Kommt es häufig vor, dass auf den verschiedenen Ebenen bunt durch den Regenbogen gewählt wird?
Es kommt durchaus vor, aber es geht wohl nie durch das ganze komplette Spektrum. Jede dieser Ebenen bringt auch bestimmte politische Inhalte und Fragen mit. Es gibt auch bei der Abgeordnetenhauswahl bestimmte Fragen, die sind natürlich auf der Bundesebene völlig irrelevant. Und auch andersherum kann man natürlich argumentieren, im Berliner Abgeordnetenhaus wird nicht die deutsche Außenpolitik entschieden. Wenn mir solche Themen wichtig sind, dann kann sich natürlich auch die Wahlentscheidung zwischen den Ebenen unterscheiden.
Trotzdem würde man vermuten, dass man sich eher im selben politischen Lager bewegt. Dazu kommen aber auch noch strategische Fragen. Es kann natürlich auch sein, dass man unbedingt Partei X in der Berliner Landesregierung haben will und deswegen gibt man dieser Partei die Stimme. Gleichzeitig möchte man aber vielleicht bei der Bundestagswahl der Partei die Stimme geben, der man tatsächlich ideologisch am nächsten steht. So kommt es auch zu Unterschieden im Wahlverhalten.
Kann ein durchschnittlich informierter Wähler oder eine durchschnittlich informierte Wählerin überhaupt durchblicken, auf welcher politischen Ebene – also Bezirk, Land und Bund – eine Entscheidung getroffen wird?
Die Unterscheidung der Kompetenzen zwischen Bund und Land funktioniert bei vielen noch relativ gut – vor allem bei Themen, für die man sich interessiert. Wer etwa Kinder im schulpflichtigen Alter hat, weiß wohl, dass die Bildungspolitik auf Landesebene entschieden wird. Andererseits ist es gerade im Stadtstaat Berlin nicht immer einfach zu verstehen, was macht genau die Bezirksverordnetenversammlung im Vergleich zum Abgeordnetenhaus? Aber es ist schon so, dass die Parteien versuchen mit ihrer Themensetzung klarzumachen, was eigentlich auf dieser Ebene entschieden werden kann.
Wenn man beispielsweise an die Drogenproblematik im Görlitzer Park in Kreuzberg denkt, dann vermischen sich dort die verschiedenen Ebenen: Einerseits ist die Drogenpolitik Bundessache, die Polizei ist Landessache und der Park selbst ist Bezirkssache. Wer eine solche themengetriebene Wahlentscheidung treffen will, verliert sich doch leicht im Kompetenzwirrwarr?
Daran kann man gut die Verflechtung der verschiedenen Ebenen sehen. Man muss gezwungenermaßen schauen, was die Lösungsansätze der Parteien auf den unterschiedlichen Ebenen sind und wo Lösungsansätze ineinandergreifen. Letztendlich treten ja dann doch größtenteils die gleichen Parteien auf den verschiedenen Ebenen an und natürlich macht es Sinn, eine Partei für sich zu finden, die die eigenen Interessen auf allen Ebenen vertreten kann.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Dominik Ritter-Wurnig, rbb|24
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