Berliner Spitzenkandidaten | Franziska Giffey (SPD)
Der Kampf ums Rote Rathaus schien für die SPD schon verloren. Sie setzte alles auf die Karte Giffey. Auch weil die Mitbewerber schwächeln und sich der Wind gedreht hat, ist Franziska Giffey auf den letzten Wahlkampfmetern klare Favoritin. Von Jan Menzel
Das Herz schlägt im Wahlkampf auf der Straße. Stehtische, Sonnenschirme und Papptütchen mit dem roten, eckigen Herzen als Logo – der SPD-Wahlkampftross hat sich in der Fußgängerzone aufgebaut. Mittendrin steht die Frau mit der markanten Hochsteckfrisur. Franziska Giffey trägt an diesem Freitag in der Wilmersdorfer Straße einen weinroten Blazer und schreibt fleißig Autogrammkarten.
Als ehemalige Bundesministerin ist Giffey mit Abstand die prominenteste unter den Kandidaten für die Nachfolge des Berliner Regierenden Bürgermeisters Michael Müller (SPD). Eine, die, seit sie in Neukölln anfing, ihr Image als Macherin pflegt. Als Politikerin, die sich kümmert, die ansprechbar ist und der Politik Spaß macht. "Es ist das echte Berliner Leben und wenn man an so einen Stand geht, bekommt man ungefiltert Rückmeldung", sagt sie bei ihrem Wahlkampf-Stopp in der Einkaufsstraße.
"Ungefilterte Rückmeldung" hat Giffey zu diesem Zeitpunkt schon reichlich bekommen. Ein älterer Mann kommt ohne Umschweife auf die Affäre um ihre Doktorarbeit zu sprechen. Ruhig und sachlich erläuterte er der Kandidatin wie richtiges Zitieren und wissenschaftliches Arbeiten geht."„Das kriegt man doch von selber mit und dann beherzigt man das eigentlich", sagt er bedächtig und dabei schwingt neben der Enttäuschung durchaus Sympathie mit.
Ein jüngerer Mann bleibt kurz darauf stehen und ist weit weniger nachsichtig mit Giffey. "Woher soll ich nach diesen Vorgängen den Glauben an Ihre Integrität nehmen", fragt er. Sie habe ihre Arbeit nach bestem Wissen und Gewissen geschrieben, erwidert Giffey. Sollten ihr dabei Fehler unterlaufen sein, bedauere sie das. "Fehler", fragt der Mann fassungslos, "und kein Vorsatz?" Giffey verneint. Der Mann schüttelt den Kopf. Er sei selbst Wissenschaftler und habe einen Doktortitel. Ihm geht es um Glaubwürdigkeit. Giffey sagt, sie wolle Gutes für die Stadt bewirken. Es geht hin und her, aber Bürger und Bürgermeister-Kandidatin kommen nicht zusammen.
Auch in den jüngsten Umfragen wird deutlich, dass Giffeys Beliebtheitswerte unter der Plagiatsaffäre leiden. Aber es gibt auch echte Fans. Zwei ältere Damen strahlen übers ganze Gesicht, als sie Giffey unter dem SPD-Schirm entdecken, und wünschen ihr "ganz viel Kraft". Das sind Momente, in denen die 43-Jährige drauf los berlinert. Als zwei Oberstufenschüler sie kurz darauf etwas steif mit der digitalen Misere an ihrer Schule konfrontieren, ist Giffey ganz in ihrem Element: "Ich habe als Schulstadträtin in Neukölln schon dafür gesorgt, dass wir Schulen hatten, die komplett kreidefrei waren."
Giffeys Berufswunsch war eigentlich Lehrerin. Doch die Ärzte rieten ihr wegen Problemen mit der Stimme davon ab. So wurde sie Bezirksstadträtin für Bildung, danach drei Jahre Bezirksbürgermeisterin in Deutschlands bekanntestem Problem-Bezirk und schließlich Bundesfamilienministerin. Entdeckt und zur Neuköllner Europa-Beauftragten gemacht hat sie vor fast 20 Jahren Heinz Buschkowsky. Anders als ihr Mentor setzt sie mehr auf gute Laune und weniger auf knallharte Sprüche. Was die beiden Partei-Rechten aber eint, ist die Politik der klaren Kante. Giffey holte in ihrer Neuköllner Zeit Wachschutz an schwierige Schulen, ließ das Ordnungsamt nachts im Park patrouillieren und sagte kriminellen Clans den Kampf an.
Für viele in der traditionell linken Berliner SPD war das starker Tobak. Genauso wie das Wahlprogramm, das Giffey ihrer Partei verordnet hat. Sauberkeit, Sicherheit und weitestgehend freie Fahrt fürs Auto stehen darin ganz oben. Dass Giffey dies ohne nennenswerten Widerstand durchsetzen konnte und die ganze Partei geschlossen hinter ihr steht, kommt in der diskussionsfreudigen Berliner SPD einem kleinen Wunder gleich.
Ihre Autorität verdankt Giffey auch einer strategisch klugen Allianz mit dem mächtigen Fraktionschef im Abgeordnetenhaus, Raed Saleh. Anders als der Spandauer Saleh ist Giffey nicht besonders tief in der Partei verwachsen. Die klassische Ochsentour hat sie nie absolviert. Schon ihre Berufung ins Bundeskabinett verdankte sie vor allem prominenten Fürsprechern wie dem brandenburgischen Ministierpräsidenten Dietmar Woidke (SPD). Er und andere wollten eine Frau mit Ost-Biografie in der Regierung sehen. Giffey ist in einer kleinen Gemeinde bei Fürstenwalde (Oder-Spree) aufgewachsen.
Ihre Familie lebt dort noch immer. Die Mutter ist Buchhalterin, der Vater KFZ-Meister. Ihr Bruder hat eine Auto-Werkstatt und verkauft neuerdings auch Elektroroller, wie sie auf einem Termin mit jungen Unternehmern erzählt. Man hört dabei heraus, wie sehr die Herkunft die Politikerin Giffey geprägt hat. Ihre steile Karriere im Berliner Politikbetreib ist vor diesem Hintergrund auch eine sozialdemokratische Aufstiegsgeschichte.
Wobei die zwischenzeitlich hoffnungslose Lage der SPD Giffey entscheidend in die Hände spielte, als es um die Spitzenkandidatur ging. Selbst den Skeptikern in den eigenen Reihen galt die "Gute-Laune-Giffey" irgendwann als einzige, der es vielleicht noch gelingen könnte, die Berliner SPD nach Jahren der Dauerregentschaft vor dem Absturz zu bewahren und das Rote Rathaus zu verteidigen.
Wie Giffey Politik macht und Menschen mitnimmt, lässt sich bei fast allen ihren Terminen beobachten. Als sie junge Start-ups in einem Büro-Loft in Mitte besucht, dreht sich das Gespräch schnell um Digitalisierung und eine Verwaltung, die eher bremse als helfe. Einer der Gründer wirft die Idee in die Runde, dass die Stadt so etwas wie einen Berlin-App-Store brauche. Darin könnte alles gebündelt sein, von Verwaltungsdienstleistungen über Formulare bis hin zu Apps für spezielle ÖPNV-Kundengruppen.
Giffey hat da schon längst ihr rotes Leder-Notizbuch gezückt und sich mit dem Füller Stichworte notiert. Sie lächelt dabei, fragt nach und es wäre nicht verwunderlich, wenn an diesem Vormittag die Unternehmer Zeuge werden, wie Franziska Giffey das Gute-Verwaltungs-Gesetz erfindet. "Wir müssen das zusammenbringen", sagt sie. Die Verwaltung mit ihren Mitarbeitern und deren Erfahrung und das Know-how der Berliner Digital-Wirtschaft.
Als die Gründer skeptisch gucken, schiebt sie einen ihrer typischen Sätze hinterher: "Es gibt immer und überall die Bedenkenträger und die Möglich-Macher." Auf welcher Seite Giffey steht, ist natürlich klar. Dass nun - wenige Wochen vor der Wahl - auch ein Wahlsieg im Bereich des Möglichen liegt, liegt aber nicht alleine an der Kandidatin.
Dass sich die Stimmung im Bund innerhalb kurzer Zeit komplett drehen könnte und die anderen politischen Mitbewerber so harmlos bleiben würden, hätten sich die kühnsten SPD-Strategen nicht träumen lassen. Genauso wenig wie sie die Aberkennung des Doktortitels und die neuen Plagiatsvorwürfe im Zusammenhang mit Giffeys Masterarbeit ahnen konnten, als die Kandidatur in besiegelt wurde.
"Wer ich bin und was ich kann, ist nicht abhängig von diesem Titel." Diesen Satz hat Franziska Giffey gepostet, kurz nachdem sie als Familienministerin zurückgetreten ist. Das Kalkül dahinter könnte verfangen. Der ältere Mann, der Giffey am Wahlkampfstand mit der richtigen Zitierweise und wissenschaftlichen Standards konfrontiert hatte, lässt am Schluss des Gesprächs versöhnlich durchblicken, dass er sie trotzdem wählen werde.
Beitrag von Jan Menzel
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