Berlin-Wahl | Serie "Endstation Demokratie?"
Die Gegend ums Märkische Viertel ist die Heimat für mehr Jugendliche als jede andere Ecke in Berlin. Doch dass die Politik viel für sie tut, sehen sie nicht. Weder im Großen noch im Kleinen. Von Haluka Maier-Borst
Berlin hat gewählt. Und trotzdem sind viele Menschen nicht im neuen Abgeordnetenhaus repräsentiert. Weil sie nicht zur Wahl gegangen sind. Weil sie ihre Stimme einer Partei gegeben haben, die an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert ist. Oder weil sie gar nicht wählen durften.
In der Serie "Endstation Demokratie?" fahren wir an Orte, die Extrembeispiele für diese Faktoren sind und fragen Menschen vor Ort, wie es dazu kommt, was das mit ihnen macht und was sich aus ihrer Sicht ändern müsste.
4. Folge: Märkisches Viertel. Wenn vor der Schule nur noch ein großes Loch steht.
Märkisches Viertel, kurz MV. Wahre und angedichtete Ghetto-Romantik wurde über diesen Teil von Berlin geschrieben. Besonders bekannt wurde das MV durch den ersten Hit des Rappers Sido. Das war 2004, vor 19 Jahren. Es gibt also Menschen hier danach geboren wurden, aber schon wählen. Oder es bald dürfen.
Um diese soll es in dieser letzten Folge der Serie “Endstation Demokratie?” gehen. Denn in Reinickendorf 5 gibt es so viele Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren wie in keinem anderen Abgeordnetenhaus-Wahlkreis. Junge Menschen, die noch nicht wählen und mitbestimmen dürfen.
Stört die Jugendlichen das - jetzt, wo es so oft um das Klima und damit ihre Zukunft geht? Oder ist das mit der Politik ihnen egal? Um das zu beantworten haben fünf Schüler:innen des Thomas-Mann-Gymnasium eine Stunde mit uns diskutiert. Wir weichen darum von unserem gewohnten Reportage-Format ab und lassen die Jugendlichen in einer gekürzten Fassung dieser Diskussion zu Wort kommen.
rbb|24: Wir sind hier, weil wir mit Jugendlichen reden wollten, die hier leben, aber noch nicht wählen dürfen. Was sagt ihr denn dazu, dass bei der letzten Abgeordentenhauswahl ohne euch entschieden wurde? Sollte man das Wahlalter auf 16 heruntersetzen?
Laurenz: Also, ich persönlich würde wählen gehen. Ich wäre mir aber unsicher, ob man grundsätzlich ermöglichen sollte, ab 16 Jahren wählen zu gehen. Denn ja, es würden sicher viele das machen. Ich weiß aber nicht, ob sich alle auch genügend mit den Themen auseinandersetzen. Zum Beispiel beim Klima-Volksentscheid haben viele aus meinem Freundeskreis gesagt: "Ja, aber das sind ja nur sieben Jahre, wie soll man das schaffen? Da passiert doch eh nix." Dass das aber mal ein Signal für die Politik ist und Sachen in Bewegung setzen kann, das haben viele nicht gesehen.
Gut, aber sehen denn die Erwachsenen das? Sind die denn immer gut informiert?
Berkay: Ja, das ist gut, dass Sie die Frage stellen. Klar, 16-Jährige sind in gewissen Punkten anfälliger für Desinformation und Manipulation im Internet. Aber ein 60-Jähriger kann sich auch von Plakaten mit komischen Aussagen beeinflussen lassen. Man müsste sicher mehr in der Schule darüber sprechen, was es bedeutet, wählen zu dürfen. Aber jetzt dürfen wir es eben nicht und darum spricht man kaum darüber. Und am Ende heißt das auch: Wir sind bei Themen wie Klima und Nachhaltigkeit im Parlament schlecht repräsentiert, obwohl die uns angehen.
Ihr klingt gerade sehr erwachsen und redet sehr über das Allgemeine. Aber habt ihr Beispiele aus eurer Familie oder aus eurem Freundeskreis, wo ihr gemerkt habt, wie sehr oder wie wenig Erwachsene und Jugendliche sich mit politischen Themen beschäftigen?
Laurenz: Beim Volksentscheid habe ich mit meinen Eltern und meinen Großeltern gesprochen und die waren eher dagegen. Weil die gesagt haben, das mit den Klimamaßnahmen, das ist doch so teuer, wenn man das umsetzt. Aber dass man das Ganze dann mit dem Ziel 2045 nach hinten verschiebt und es nicht billiger wird, das haben die sich nicht überlegt.
Raya: Meine Eltern reden schon viel über Politik mit mir und gehen wählen. Die sind, glaube ich, gut informiert. Darum mache ich mir auch viel Gedanken darüber. Nur bei anderen Familien ist das sicher anders, da ist viel Desinteresse. Das merkt man ja auch daran, dass eigentlich viele Migrationshintergrund hier haben und trotzdem immer die konservativen Parteien am stärksten sind.
Naja, oder die Leute mit Migrationshintergrund können nicht wählen.
Tuana: Ich glaube, viele sagen immer, man ist mit 16 zu unreif zum Wählen. Aber wenn man die Möglichkeit hätte, wählen zu gehen, dann würde man die Verantwortung merken und sich mehr damit beschäftigen. Und ehrlich gesagt, die Werbung für die Politik, kriegen wir eh aufs Handy. Da könnten wir uns also auch am Handy mehr Infos dazu holen. Oder wir müssten einfach mehr in der Schule darüber sprechen, mit einer neutralen Person.
Gibt es denn das, eine neutrale Person?
Tuana: Unser Lehrer, Herr Riedel vielleicht. (lacht)
Okay, ihr redet jetzt über große Themen wie Klimawandel und die sind auf jeden Fall wichtig. Aber was müsste sich denn konkret hier im Märkischen Viertel ändern?
Elvin: Die Parteien müssten mehr für die Jugendlichen hier machen. Jugendclubs, Spielplätze, sowas. Das fehlt hier alles oder ist weit weg. Und wenn es das Wahlrecht ab 16 gäbe, müssten die Parteien auch für uns etwas machen, damit sie unsere Stimme bekommen.
Berkay: Ich finde, dass unsere Themen zu kurz kommen. Sei es Jugendprojekte, sei es Sachen im Bereich Bildung. Wir Jugendliche werden immer auf das Thema Klima reduziert. Aber natürlich sind auch Sachen wie Mietendeckel für mich wichtig, weil die Familie von Freunden zum Beispiel damit kämpft, wie sie noch ihre Miete bezahlen soll.
Elvin: Und eine Sache noch. Wenn man sagt, dass unsere Aufnahmefähigkeit mit 16 noch nicht gut genug ist für das Informieren über Politik und das Wählen, dann müsste man doch auch fragen, wann das wieder aufhört. Denn es ist ja schon so, dass ab irgendeinem Alter die Leistungsfähigkeit des Gehirns abnimmt.
Aber nochmal, was müsste denn die Politik für euch hier machen? Habt ihr das Gefühl, dass ihr die gleichen Chancen habt wie jemand, der in Charlottenburg aufs Gymnasium geht?
Laurenz: Das Ausbauen der U8 würde helfen. Die Busse, die jetzt das Märkische Viertel mit der Endstation verbinden, fallen oft aus. Und das ist für uns blöd und auch für die älteren Leute wie meine Oma, wenn wir in die Stadt wollen. Und hier die Fassaden zu verschönern, wäre auch gut. Zum Beispiel das Haus, in dem meine Oma wohnt, das ist schon sehr runtergekommen.
Berkay: Mir war erst gar nicht klar, dass das Märkische Viertel so einen schlechten Ruf hat. Ich wohne nur in der Nähe und dann haben mir Freunde aus Charlottenburg, aus Kreuzberg oder woanders in Reinickendorf das klar gemacht, als ich hier auf die Schule gegangen bin. Aber ich merke nicht, dass es so schlimm ist. Also vielleicht wäre eine Aufgabe der Politik auch, den Ruf des Viertels zu verbessern.
Laurenz: Ein Problem hier, ist die Baustelle vor der Schule. Da war früher ein Einkaufszentrum und das wurde abgerissen, damit ein neues entstehen kann. Nur dann ist, glaube ich, die Baufirma pleite gegangen und jetzt ist es einfach ein riesiges Loch. Und wieder ist also etwas verloren gegangen, ohne dass etwas Neues dazu kommt. Das macht es nicht attraktiv für Leute, hierher zu kommen oder zu bleiben.
Was macht ihr denn dann nach der Schulzeit, wenn Jugend-Clubs zum Beispiel fehlen?
Raya: In den Geschäften was zu essen kaufen und dann mit Freundinnen irgendwo rumlaufen und abhängen. Das war’s eigentlich.
Elvin: Ja, im Grunde ist es das. Und wenn man einen Jugend-Club hinbauen würde, wo man kostenlos Tischtennis, Billard spielen kann, dann würden die Jugendlichen weniger am Handy rumhängen.
Weniger am Handy rumhängen? Oder auch weniger Scheiße bauen?
Elvin: Auch. In einem Jugend-Club sind Betreuer und die kümmern sich um einen. Und wenn man nur da draußen ist, da kann einfach Stress passieren. Wenn es so einen Club gäbe, wäre man eben aufgehoben. Dann passiert auch weniger Kriminalität und sowas - und der Ruf des Viertel wäre vielleicht besser.
Laurenz: Das Problem ist auch ganz einfach: Es gibt hier wenig Möglichkeiten, etwas zu machen oder auch nur sich hinzusetzen. Es gibt einen Teich, da kann man sich daneben setzen und sich dort langweilen. Oder das Höchste der Gefühle ist der KFC, wo man sich auf die Bänke setzen kann. Darum treffe ich mich meistens mit Freunden in Mitte oder Tegel, um zum Beispiel bowlen zu gehen. Hier gibt es kein Kino, kein Bowling-Center, kein nix. Also das gab es früher mal, als meine Eltern Jugendliche waren. Aber selbst wenn ich mit Freunden, die im MV wohnen, etwas unternehmen will, fahren wir woanders hin.
Elvin: Ich gehe nicht mal mehr nach Hause nach der Schule. Wir fahren direkt zu Hotspots wie Gesundbrunnen und Alexanderplatz und laufen da rum. Ganz ehrlich, für uns ist das nicht mal mehr eine Option, hier was zu machen.
Wir haben jetzt über vieles gesprochen. Würdet ihr nach der Diskussion sagen, dass man erst mehr in der Schule über Politik reden sollte und dann das Wahlalter senken? Oder fängt man sich erst dann dafür zu interessieren, wenn man wählen kann?
Laurenz: Ich muss sagen, für mich würde es am meisten Sinn machen, vor allem für den Bezirk, für Berlin oder bei Volksabstimmungen mit 16 wählen zu können. Weil die Probleme, die uns hier beschäftigen, werden auf diesen Ebenen entschieden. Bundestag, das ist so weit weg. Und ich habe auch keine Lust, mir die Wahlprogramme von 30 Parteien durchzulesen. Bei Volksentscheiden dagegen, da ist ja auch recht klar, worüber man abstimmt.
Tuana: Ich weiß nicht, ich glaube immer noch, dass man sich dann für etwas interessiert, wenn man eben auch etwas mitbestimmen kann.
Berkay: Ich fand es einfach cool, dass wir gefragt wurden, darüber zu sprechen, was uns bewegt. Weil ganz oft melden sich irgendwelche Leute zu Wort und reden darüber, ob man mit 16 wählen kann oder nicht. Aber die selbst sind schon so viele Jahre von diesem Alter entfernt. Da frage ich mich: Wie wollen die das denn wissen? Plus diese Idee, dass schlagartig mit 18 sich alles ändert - das ist doch Quatsch.
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Beitrag von Haluka Maier-Borst
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