Spitzenkandidaten | Michael Müller (SPD)
Bodenständig und leise, etwas blass, aber einer, der beharrlich die vielen kleinen Baustellen in der Millionenmetropole anpackt - als Michael Müller die Berliner Landesregierung übernimmt, sehen viele in ihm den Gegenentwurf zum schillernden Klaus Wowereit. Inzwischen steht fest: Nicht jedes Klischee stimmt. Von Jan Menzel
Wenn es für Michael Müller einen Schicksalsort gibt, dann ist es das Hotel Estrel in Berlin-Neukölln. Hier steckt er seine bitterste Niederlage ein, und hier kann er seinen süßesten Sieg auskosten. Im Estrel wählt ihn die SPD auf einem Parteitag im Jahr 2012 als Landesvorsitzenden ab und macht den Parteilinken Jan Stöß zum neuen Chef. Müllers politische Karriere scheint vorbei. Doch vier Jahre später, im April 2016, holt sich der inzwischen zum Regierenden Bürgermeister Aufgestiegene im gleichen Hotel den SPD-Landesvorsitz zurück.
Müller kann warten, und Müller steht nach einer Niederlage wieder auf. Das hat der 51-Jährige in seiner politischen Karriere mehrfach bewiesen. Noch als Bausenator verliert er den Volksentscheid über das Tempelhofer Feld. Müller will dort bauen, und zwar unbedingt. Aber die Mehrheit der Berliner will lieber das Wiesenmeer bewahren. Andere hätten angesichts dieser Klatsche die Flinte ins Korn geworfen. Doch Müller bleibt und kämpft weiter für sein politisches Projekt: günstige Mieten und Wohnungsneubau in Berlin.
Auch in seiner Partei gerät der ewige Kronprinz zunächst ins Abseits. Fraktionschef Raed Saleh und der SPD-Landesvorsitzende Jan Stöß laufen sich warm, um Klaus Wowereit vom Thron zu schubsen. Doch Wowereit plant seinen letzten Coup und ebnet Müller den Weg. Nicht die Funktionäre und nicht die Parteitagsdelegierten sollen über seinen Nachfolger im Roten Rathaus entscheiden, sondern die Basis.
Die einfachen Genossen bescheren Müller 2015 ein Comeback, das die wenigsten für möglich gehalten hätte. Müller gewinnt das Mitgliedervotum mit deutlichem Abstand. "Ich freue mich wahnsinnig, aber ich muss auch sagen, ich bin ganz platt", verkündet er grinsend im Kurt-Schumacher-Haus, der Berliner SPD-Zentrale.
Das ist einer der seltenen Momente, in denen es aus dem zweifachen Familienvater herausbricht. Ansonsten heißt es über ihn hartnäckig, er sei so "charismatisch wie eine Büroklammer". Er selbst kokettiert bisweilen mit diesem Normalo-Image und kultiviert das Bodenständige. In Berlin-Tempelhof geboren, dort aufgewachsen und zur Schule gegangen, absolviert er eine kaufmännische Lehre und arbeitet dann mit seinem Vater - übrigens auch ein Sozialdemokrat - im gemeinsamen kleinen Druckerbetrieb, natürlich in Tempelhof.
"Ich kann mir gar nicht vorstellen woanders zu leben, weil’s hier so schön ist. Aber ich glaube, ich weiß auch, wie diese Stadt tickt", hat er einmal gesagt.
Politik hat Müller tatsächlich von der Pike auf gelernt - erst im Bezirk, dann im Landesparlament und in der Stadtentwicklungsverwaltung. Nun ist er ganz oben im Roten Rathaus. Die übliche 100-Tage-Schonfrist bekommt er nicht. Zu viel ist liegen geblieben, die Stadt steckt im Reformstau.
In seiner ersten Regierungserklärung macht Müller deutlich, dass er anders regieren will: "Auch in einer Millionenstadt sind mir kleine Schritte lieber als große Luftschlösser. Denn es sind oft die kleinen Dinge, die das Leben einfacher und besser machen." Es sind aber auch die großen Dinge, die einem Bürgermeister auf die Füße fallen und die das Regieren schwerer machen.
Da ist zum Beispiel der neue Hauptstadtflughafen BER, noch immer eine Baustelle und immer für neue Hiobsbotschaften gut. Müller zögert zunächst, übernimmt dann doch neben dem Bürgermeister-Amt auch den Aufsichtsratsvorsitz der Flughafengesellschaft. "Gerade bei so einem Projekt muss Politik in der Verantwortung bleiben und kann sich nicht einfach zurückziehen, sondern muss alles tun, damit es in Ordnung gebracht wird.“
Wegducken oder Aussitzen ist nicht seine Sache. "MM", wie ihn seine Leute nennen, ist auch nicht "emotionslos wie ein Aktenordner": Als im Herbst 2015 immer mehr Flüchtlinge nach Berlin kommen und das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) vor den Augen der Öffentlichkeit kollabiert, platzt Müller der Kragen. Verärgert über das Krisenmanagement seines Sozialsenators Mario Czaja fallen deutliche Worte im Parlament. Viele glauben, Müller würde den CDU-Mann vor die Tür setzen und die Koalition platzen lassen.
"Manch einer unterschätzt mich vielleicht auch. Ich kandidiere nicht als Regierender Moderator", hat er einmal gesagt, als es darum ging Klaus Wowereit zu beerben. Müller kann ziemlich schmallippig und unwirsch werden, wenn es mit dem guten Regieren nicht so klappt, wie er sich das vorstellt. Es gibt da aber auch eine Eigenschaft, mit der sich seine Vorgänger regelmäßig schwer taten: Selbstkritik. "Vieles ist gelungen", sagt Müller. "Aber vieles hätte auch schneller und besser laufen müssen."
Beitrag von Jan Menzel
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