Interview | Erster wohnungsloser Kandidat
Noch nie hat ein Mensch ohne festen Wohnsitz für den Deutschen Bundestag kandidiert - obwohl mindestens 860.000 Menschen in Deutschland wohnungslos sind. Auch weil eine Kandidatur mit hohen Hürden verbunden ist. Jetzt hat es einer geschafft.
rbb|24: Herr Lindlmair, Sie sind der erste wohnungslose Kandidat bei der Bundestagswahl. Wieso ist bis jetzt niemand anderes angetreten?
Thomas Lindlmair: Weil das mit riesigen Hürden verbunden ist. Ich wurde zum Beispiel kreuz und quer durch Berlin geschickt, weil man sich ja registrieren lassen muss. Dazu bräuchte man aber eine Wohnung. Die hab' ich aber nicht. Am Ende hab ich mich dazu entschieden in Neukölln zu kandidieren und der Wahlleiter hat dort ein polizeiliches Führungszeugnis eingefordert. Dabei ist eigentlich klar, dass man das aktive und passive Wahlrecht nicht verliert, wenn man wohnungslos ist.
Was ist denn der Unterschied zwischen wohnungslos und obdachlos?
Ich habe ein Obdach, also ich lebe nicht auf der Straße, aber ich habe derzeit keinen festen Wohnsitz. Ich habe eine Unterkunft, wo ich auf Zeit einen Mietvertrag habe, die muss ich aber pausenlos wechseln, weil es Arbeiterunterkünfte sind. Dabei muss ich sehr genau darauf achten, dass die günstig sind. Das heißt, ich presche in Lücken hinein, wo gerade eben keiner da ist und wo ein Zimmer günstig ist.
2016 gab es etwa 860.000 wohnungslose Menschen in Deutschland. Bald könnten es 1,2 Millionen sein. Welche Parteien wählen diese Menschen?
Die 860.000 Wohnungslosen in Deutschland dürfen gar nicht wählen, weil sie es höchstwahrscheinlich nicht geschafft haben, sich anzumelden. Also theoretisch ist es möglich. Praktisch ist es aber so, dass sie sich bis zum 3. September hätten registrieren lassen müssen.
Wo?
In dem Bezirk, in dem sie offiziell die entscheidende Nacht vom 20. auf den 21. August aufgehalten haben. Dort kann man sich registrieren lassen. Aber woher sollen die das denn wissen? Es ist sehr schade, dass so viele Menschen von der Wahl ausgegrenzt werden. Es wurde zwar ein Flyer gedruckt, der an Obdachlose verteilt werden sollte. Wir haben aber lange gebraucht, bis wir herausgefunden haben, wo diese Flyer ausliegen.
Nur wer aktiv danach gefragt hat, der hat diesen Flyer gekriegt. Wenn aber jemand eine Sozialeinrichtung oder eine Beratungsstelle aufsucht, dann denkt er in dem Moment nicht an sein Wahlrecht. Der hat ganz andere Probleme, der hat ein Wohnungsproblem, der braucht Essen.
Deswegen müssten die Flyer überreicht werden, aktiv überreicht. Dann, nur dann wird es überhaupt wahrgenommen. Und dann muss man auch mit den Leuten reden, wenn sie ihr Wahlrecht wahrnehmen sollen. Man muss auf den Stichtag hinweisen. Die Probleme, die viele Menschen haben, sind so erdrückend, dass sie zwar ans Wahlrecht durchaus denken, aber es tatsächlich wahrzunehmen, ist eine solche Hürde, die in Berlin so hoch gehängt wurde, dass das möglicherweise verfassungsrechtliche Relevanz hat.
Wie haben Sie sich eigentlich entschlossen zu kandidieren?
Ich habe mich zunächst bemüht, andere Kandidaten aus Berlin zu finden. Mieter, die sich auch in der Mieterpartei für den Bundestag zum Beispiel engagieren. Das war eigentlich der Traum. Da habe ich sehr viel Zeit darauf verwendet. Keiner hat sich getraut, obwohl die Hürden diesmal wirklich machbar gewesen wären. Und dann habe ich gesagt: Na ja, dann mache ich es eben selbst, mangels Alternativen.
Ich bin Kaufmann. Am liebsten wäre es mir tatsächlich gewesen, wenn sich zwölf Kandidaten gefunden hätten, und ich das Organisatorische machen könnte. So muss ich es selbst mit bescheidenen Mitteln machen. Und das funktioniert einfach nicht.
Wie viele Medien, wie viel Presse ich schon angeschrieben und angerufen habe! Dann wird es an die Redaktion weitergegeben, aber dort verliert sich das wieder. Was will da ein Lindlmair, der nicht SPD, CDU, Grüne oder sonst was ist?
Rechnen Sie sich trotzdem gute Chancen aus, einige Stimmen zu erhalten?
Ich hoffe natürlich schon, dass ich ein paar Stimmen bekomme. Es ist mir wichtig, auf das Thema aufmerksam zu machen. Deswegen werbe ich dafür, dass mir die Leute hier ihre Erststimme geben. Hier im Bezirk ist das Thema Mieten ein großes Thema. Und ich bin selbst betroffen in dem Sinne, dass ich derzeit ohne festen Wohnsitz bin und ich es als erster in Deutschland gewagt und geschafft habe, ohne festen Wohnsitz für den Bundestag zu kandidieren.
Ich möchte die Menschen hier vertreten. Über 85 Prozent wohnen hier in Neukölln zur Miete und viele Menschen haben Angst, was die nächsten Jahre passiert. Es ist zu erwarten, dass der Bezirk gentrifiziert wird, dass viele Menschen verdrängt werden, viele ihre Mieten nicht mehr bezahlen können. Häuser werden aufgekauft von irgendwelchen Spekulanten. Die wollen renovieren, die wollen Luxuswohnungen machen. Und es findet dann eben eine starke Verdrängung statt, und ich kann diese Angst total nachvollziehen. Und deswegen hoffe ich, dass ein paar Menschen mich wählen.
Was würden Sie denn als erstes im Bundestag machen?
Mein großes Ziel ist es, dass auch Leute mit weniger Einkommen eine Wohnung haben und nicht in Notunterkünften oder sonstwo unterkommen. Das kann ich machen, wenn ich in den Bundestag kommen würde. Selbst als Parteiloser oder Mitglied der Mieterpartei bin ich nur einer von vielen, aber ich kann Gesetzesentwürfe einbringen.
Und ich kämpfe dafür, dass das Recht auf eine Wohnung in die deutsche Verfassung aufgenommen wird. Alle Parteien wollen ja die Mieter schützen. Das wäre ein Offenbarungseid, das abzulehnen. Stellen Sie sich vor, die SPD stellt sich plötzlich hin und sagt. "Nein, wir wollen das nicht, dass ein Recht auf eine Wohnung in die deutschen Verfassung aufgenommen wird."
Artikel eins des Grundgesetzes sagt, die Würde des Menschen ist unantastbar. Das haben unsere Verfassungsväter völlig zurecht in die Verfassung geschrieben, gerade auch wegen unserer Vergangenheit. Ich kann aber keine Wohnung räumen, ohne die Menschenwürde anzutasten. Das ist meine tiefste Überzeugung. Das habe ich am eigenen Leib erlebt. Auch meine Wohnungen wurden verkauft. Es ist in ganz Deutschland eben so, dass eine leerstehende Wohnung wesentlich mehr Geld bringt als ein vermietete. Das ist auch ein Grund, warum so viel Leerstand-Spekulation betrieben wird. Das ist die perverse Situation, die wir heute haben.
Was ist Ihnen widerfahren?
Ich bin leider mehrfach betroffen. Drei Wohnungen, in denen ich zwischen zwei und zwölf Jahre gewohnt habe, wurden verkauft. Wir haben mittlerweile Vermieter, die nutzen einen Urlaub aus, ohne Gerichtsverfahren, um Wohnungen zu räumen. Weil die Entschädigung, die man Mietern dann zahlen muss, lächerlich gering sind.
Stellen Sie sich mal vor, Sie sind eine alleinstehende Person. Sie wohnen in einer Wohnung, sind drei, vier Wochen weg. Wenn sie zurückkommen ist die Wohnungen leer. Alles weggeworfen. Dann gehen sie zu Gericht, und sie haben einen Entschädigungsanspruch auf Papier, aber wer weiß, was die Sachen wert sind? Bilder von der Mutter, die liegen längst alle im Container.
Entschuldigung. Ich möchte da eigentlich gar nicht daran erinnert werden. Aber deswegen kämpfe ich, weil ich möchte nicht, dass es anderen Leuten immer wieder so geht. Die Kosten und die Schäden für Menschen, waren bei mir, der psychiatrisiert wurde, viel höher als der Wert der Wohnung. Das hat aber die Allgemeinheit bezahlt. Der Vermieter hat ein paar tausend Euro Vorteil, aber die Schäden zahlen alle.
Die Bundestagswahl ist eine ziemlich große Nummer. Warum sind Sie nicht bei der Abgeordnetenhauswahl oder der Bezirkswahl angetreten?
Weil der Bundestag das einzige Parlament ist, wo man keinen festen Wohnsitz braucht. Bei allen anderen hätte ich einen festen Wohnsitz gebraucht. Für das Abgeordnetenhaus kandidieren die Kollegen von der Mieterpartei.
Vielen Dank für das Gespräch.
Das Interview führte Efthymis Angeloudis, rbb|24.
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