Scholz und Baerbock im Wahlkreis 61
Alles schaut auf Wahlkreis 61: Hier treten mit Olaf Scholz und Annalena Baerbock gleich zwei Kanzlerkandidaten gegeneinander an. Das macht es nicht gerade leichter für die 15 anderen Mitbewerber um das Direktmandat. Von Hanno Christ
Wer an den Wahlplakaten In Potsdam vorbeiläuft, könnte den Eindruck gewinnen, als hätten die Grünen schon aufgegeben, einmal eine Kanzlerin zu stellen. Während die SPD-Plakate den Namen "Olaf Scholz" und das Wort "Kanzler" selbstbewusst und wie selbstverständlich in einem nennen, würde man die "Kanzlerin" auf den Plakaten von Annalena Baerbock nicht mal mit der Lupe finden.
Stattdessen wird hier nahezu artig um Erst- und Zweitstimme für die Kandidatin geworben. Es mag der Grünen-Kampagne geschuldet sein, lieber als Programmpartei in Erscheinung zu treten. In den wenigen Tagen vor der Wahl wirkt es, als verblasse der Anspruch und die Hoffnung vom Frühjahr, dieses Mal eine grüne Kanzlerin stellen zu können.
Dabei deutete sich im Wahlkreis 61 einst ein Duell auf Augenhöhe an. Im April waren die Grünen noch im Umfrage-Höhenflug und beeindruckten geräuschlos mit der Kanzlerkandidatinnen-Kür. Die SPD dagegen schien auf niedrigem Niveau eingefroren, um den Ruf einer Volkspartei bangend. Mehrere Monate und einige Umfragen später ist der Giganten-Wahlkampf zu einem freundlichen Duell geschrumpft. Die Grünen sind zurückgefallen, Olaf Scholz und seine SPD dagegen derzeit an allen vorbeigezogen. Auch im Wahlkreis 61 sehen Analysten den Sozialdemokraten klar vorne.
Inhaltlich sind Baerbock und Scholz in Triellen und Interviews immer näher zusammengerückt. Schnittmengen gibt es in der Sozialpolitik, Dissens in Klimaschutzfragen. Beide machen kein Geheimnis daraus, dass sie per du sind, und betonen immer wieder das Verbindende statt das Trennende. Im RTL-Triell sprach Scholz sogar von einem fast freundschaftlichen Umgang der beiden. Die Tonalität wirkt, als habe man sich schon bei einer abendlichen Kneipenrunde im Holländerviertel zu gemeinsamer Sache verabredet. Die Union gehöre nun mal in die Opposition, frotzelte Scholz unlängst bei einer Podiumsdiskussion mit Baerbock im Potsdamer Thalia-Kino. Er fände es gut, wenn die SPD und Grüne eine Regierung bilden würden.
Beide – Scholz und Baerbock – sind auf Platz eins ihrer Landeslisten. Ihr Einzug in den Bundestag ist damit mehr als wahrscheinlich. Trotz dieser komfortablen Ausgangssituation sind sie gewillt, das Direktmandat zu holen. Den Wahlkreis direkt zu gewinnen und den Konkurrenten zu distanzieren, sehen beide als Ansporn und Auszeichnung.
Baerbocks Team hat eigens ein temporäres Bürgerbüro in der Potsdamer Innenstadt gemietet. Eine Wand darin ist mit einem riesigen Portraitfoto tapeziert. Scholz dagegen hat sein Büro gleich in der Brandenburger SPD-Geschäftsstelle und setzt offenbar mehr auf Ortstermine und Laufkundschaft. Trotz des enorm hohen Termindrucks und vieler Touren durch Deutschland sind Scholz und Baerbock auffällig oft im Wahlkreis 61 unterwegs.
Tatsächlich spricht manches dafür, dass sich Baerbock umschauen muss, ob nicht doch andere an ihr im Wahlkreis vorbeiziehen. Wahlen waren hier oft ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Seit 1998 lagen übrigens immer Frauen vorne, meist die mit einem SPD-Parteibuch, aber eben nicht immer: So gewann bei der Bundestagswahl 2013 knapp die CDU-Kandidatin Katherina Reiche. Bei der Bundestagswahl 2017 verlor CDU-Kandidatin Saskia Ludwig knapp gegen Manja Schüle von der SPD, quasi im Foto-Finish. Und Annalena Baerbock? Bekam damals sogar weniger Erst-Stimmen als der Kandidat der AfD, René Springer.
Allerdings hat die Landtagswahl 2019 gezeigt, dass Potsdam in Bewegung ist. Damals sorgte die junge Grünen-Newcomerin Marie Schäffer für eine kleine Sensation, indem sie das Direktmandat holte – das erste Mal überhaupt, dass eine Grünenpolitikerin in Brandenburg einen Wahlkreis direkt gewinnen konnte. Für Baerbock wäre es also nahezu eine doppelt schmerzhafte Niederlage, wenn sie hier verlöre, in einem Wahlkreis, der den Grünen mittlerweile in vielem entgegenkommt. Potsdam ist eine vergleichsweise junge Stadt.
Allerdings ist der Bundestagswahlkreis größer als der Landtagswahlkreis und umfasst auch Städte wie Ludwigsfelde im Osten, traditionell eine Arbeiterstadt. Hier dürfte die SPD wieder bessere Chancen haben.
Chancen rechnen sich aber auch andere aus – und wenn es nur darum geht, die beiden prominentesten Kandidaten zu ärgern. 15 Mitbewerberinnen und Mitbewerber - Neulinge und Einzelkämpfer ebenso wie erfahrene Berufspolitiker - haben es schwer, im medialen Schatten der zwei Kanzlerkandidaten auf sich aufmerksam zu machen.
So schickt die CDU mit der ehemaligen Landesvorsitzenden Saskia Ludwig eine selbst- und machtbewusste Kandidatin ins Rennen. Sie sitzt momentan sogar noch in zwei Parlamenten, in Land- und Bundestag. Kritik an dieser Mandatsfülle ließ sie stets abperlen. Auf der Landesliste ihrer Partei steht sie nur auf Platz 7, die Wahrscheinlichkeit ist also hoch, dass sie nach der Bundestagswahl in nur noch einem Parlament sitzt. Derzeit wirbt sie auf ihren Plakaten mit ihrer Heimatverbundenheit als "Eine von hier" gegen einen Linksrutsch der Republik: So finden sich neben ihrem Bild auch die von Saskia Esken und Kevin Kühnert, für sie die "Gesichter der linken Republik".
Auch die FDP ist im Wahlkreis 61 mit einem ihrer bekanntesten Gesichter angetreten: Linda Teuteberg hatte als ehemalige Generalsekretärin unlängst ihren Nachfolger im Amt zu Besuch. Volker Wissing und sie warben dabei für die Wiederherstellung und Wahrung der Grundrechte, für die FDP ein Kernthema ihres Wahlkampfes. Teuteberg glaubt an einen Erfolg der FDP im Wahlkreis 61, für den aber ein gewaltiger Stimmenzuwachs nötig wäre. Bei der vergangenen Bundestagswahl bekam sie nur 7,5 Prozent der Erststimmen, 0,5 Prozent weniger als Annalena Baerbock. Ihre Plakate gehörten zu den auffälligsten Potsdams - allerdings auch, weil sie vergleichsweise häufig Ziele von teils sexistischen Schmierattacken wurden.
Mit Schmierattacken auf seine Plakate hatte es auch AfD-Kandidat Tim Krause zu tun, der erstmals für den Bundestag kandidiert. In die Kampagne des Drehbuchautors und Medienschaffenden dürfte auch eine Recherche der "Märkischen Allgemeinen Zeitung" [maz.de] gefunkt haben, wonach er seinen Kindern Unterhalt verweigert haben soll. Die Staatsanwaltschaft ermittle wegen des Verdachts der Verletzung der Unterhaltspflicht. Dabei hatte Krause im Wahlkampf für mehr Nachwuchs geworben. Kinder dürften "kein Armutsrisiko" mehr sein. Gegenüber den "Potsdamer Neuesten Nachrichten" [pnn.de] wies Krause die Vorwürfe zurück.
Die Linke ist mit Norbert Müller angetreten, der zwar erst 35 Jahre alt ist, aber schon wie ein Urgestein der Brandenburger Linken wirkt. Als schirmbemütztes Gesicht des linken Flügels sitzt er seit mehreren Jahren im Bundestag und machte sich dort unter anderem für mehr Kinderrechte stark. Nun kämpft er gegen den Bau der Garnisonkirche, für eine bessere Kita-Finanzierung und eine Deckelung der Mieten, die in Potsdam seit Jahren immer weiter steigen. Müllers Niederlage bei der Listenaufstellung seiner Partei wird ihm den Einzug in den Bundestag allerdings schwer machen.
Politisch mag die Kandidaten vieles unterscheiden, einig sind sie sich offenbar in einem Punkt: Sie wirken strapaziert, wenn mal wieder vom Duell der Kanzlerkandidaten die Rede ist, und nur gefragt wird: Scholz oder Baerbock? "Warum fragen Journalisten immer zuerst danach und nie nach mir", beklagte sich Linken-Kandidat Müller genervt in den"Potsdamer Neuesten Nachrichten" [pnn.de]. Selbst der sonst tiefensachliche Olaf Scholz rollte da auf Anfrage mit den Augen.
Am Abend des 26. Septembers haben sie es alle überstanden. Dann ist das Duell Geschichte. Und der Wahlkreis wieder einer von vielen.
Artikel im mobilen Angebot lesen