Kommentar zur Wahl in Berlin
Berlin hat die dritte Wahl in vier Jahren überstanden. Die Aufarbeitung des Debakels von 2021 ist damit abgeschlossen - zumindest was das Wahlergebnis angeht. Noch wichtigere Baustellen aber bleiben, meint Sebastian Schöbel.
Als Berlin noch geteilt war, gab es östlich der Mauer zwar keine echte Demokratie, dafür jede Menge Orden, Medaillen oder Ehrennadeln, für (fast) alles und (fast) jeden. Heute gibt es in Berlin überall Demokratie – manchmal mehr, als die Stadt organisieren kann - dafür keine Orden mehr. Leider, muss man sagen: Ausnahmslos alle, die am 11. Februar 2024 ihre Stimme abgegeben haben, hätten eine Auszeichnung verdient. Für "Verdienste an der Berliner Demokratie". Gerne am Band, mit Sternchen oder goldenem Rand.
Denn niemand sollte nach diesem skurrilen Wahl-Erlebnis über die deutlich schlechtere Wahlbeteiligung schimpfen. Es ist ein Erfolg, dass sich Tausende Berlinerinnen und Berliner am letzten Winterferientag bei Nieselregen in die Wahllokale begaben, um eine vermurkste Wahl von vor zweieinhalb Jahren zu wiederholen, während ihre Nachbarn gemütlich daheimbleiben durften. All das nach einem eher kraftlosen Wahlkampf und ohne Aussicht auf relevante Auswirkungen auf die Bundespolitik. Dass Berlin nun weniger Sitze im Bundestag hat, sollten die politisch Verantwortlichen auch nicht den zu Hause Gebliebenen anlasten: Sowas passiert, wenn Wahlen schiefgehen.
Dass nun die Scharte von 2021 ausgemerzt sei, kann aber niemand ernsthaft behaupten. Denn die Wiederholungswahl in Berlin zeigt auch, wie unwiederholbar Wahlen in Wirklichkeit sind.
Wer am Sonntag abgestimmt hat, tat das auch vor dem Hintergrund des russischen Krieges gegen die Ukraine, der Energiekrise und steigender Preise, einer zerstrittenen Ampel-Regierung und zahlreicher Massendemonstrationen gegen rechtsextreme Deportationsfantasien. Die vergangen zweieinhalb Jahre haben Spuren hinterlassen, die niemand abschütteln kann.
Dazu kommen "Sondereffekte" dieser Wiederholungswahl, und damit sind nicht nur Zugezogene gemeint, die nach 2021 anderswo nun in Berlin ein zweites Mal abstimmen durften. Wie skurril, dass zum Beispiel Michael Müller von der SPD als "Regierender Bürgermeister" auf den Wahlzetteln stand, obwohl längst sein Nach-Nachfolger regiert. Wie beunruhigend, dass die unter Umsturzverdacht stehende Birgit Malsack-Winkemann aus der U-Haft heraus für die AfD antrat, und ihr Ergebnis von 2021 sogar noch verbessern konnte. Dennoch bleiben die Auswirkungen überschaubar. Alle umkämpften Direktmandate wurden verteidigt, vier Berliner Sitze im Bundestag gehen verloren.
Wer jetzt im politischen Kaffeesatz wühlt, wird nur kleine Offenbarungen finden. SPD und FDP sind die Verlierer der Wiederholungswahl, während die CDU erneut profitierte, so wie schon bei der wiederholten Berlin-Wahl Anfang 2023. Zumindest hier dürfte der Ampel-Frust im Land zum Tragen gekommen sein. Dass die Grünen davon weitgehend verschont blieben, macht sie nicht automatisch zur beliebtesten Ampelfarbe: In Großstädten wie Berlin ist die grüne Wählerschaft traditionell stärker als auf dem Land. Der echte Test für die Grünen sind daher auch eher die anstehenden Landtagswahlen in Ostdeutschland. Zufrieden sein kann keine der drei Regierungsparteien im Bund.
Bemerkenswert ist der Stimmenzuwachs der AfD, trotz der jüngsten Proteste gegen die Partei. Gerade auch das starke Abschneiden in Pankow zeigt, dass die rechtspopulistische Partei ihre Wähler:innen inzwischen zuverlässig mobilisieren kann, selbst bei starkem gesellschaftlichen Gegenwind. Das sollte allen anderen Parteien Grund zur Sorge bereiten.
Viel wichtiger aber für Berlin war der erneute Test für die Berliner Wahlorganisation. Bis auf kleinere und letztendlich verzeihbare Wackler muss man sagen: Alles hat geklappt. Dass Wahlhelfende Unfälle erleiden oder irgendwo ein Schlüssel vergessen wird, macht das Wahlergebnis nicht anfechtbar. Berlin kann offenbar wieder Wahlen.
Zu verdanken ist das auch Berlins Landeswahlleiter Stephan Bröchler. Der nimmermüde, stets gut gelaunte Verwaltungswissenschaftler zeigt seit seinem Amtsantritt, wie sehr die Stadt einen proaktiven, dauerpräsenten und zupackenden Wahlorganisator gebraucht hat. Dass die Wahlbeteiligung niedriger war, als erhofft, ist ihm nicht anzulasten: Wenige hatten vorab so nachdrücklich fürs Wählen geworben wie er.
Bröchler lässt zudem keine Gelegenheit aus, die Politik an die noch ausstehende Reform der Wahlorganisation zu erinnern – angefangen mit dem Landeswahlamt, das nun schleunigst eingeführt und aufgebaut werden muss. Dazu pocht der Landeswahlleiter auch auf echte Durchgriffsrechte gegenüber den Bezirken.
Doch die AG-Wahlen, die ein neues Wahlgesetz entwerfen soll, kommt nicht voran. Denn tatsächlich ist bislang noch sehr wenig von dem umgesetzt, was die Expertenkommission dem Senat und den Bezirken als Hausaufgabe gegeben hat. Diese Wunde zu heilen ist fast wichtiger als jede nachträgliche Ergebniskorrektur beim Wahlergebnis.
Beitrag von Sebastian Schöbel
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