Verzerrtes Bild - So ungefährlich sind Verhaltensauffällige tatsächlich
Verhaltensauffällige sind immer wieder draußen anzutreffen. Die Diskussion über sie hat sich aber verändert, weil mehr über Gewalttäter berichtet wird, denen eine Diagnose gestellt wird. Dabei sind Verhaltensauffällige nicht gefährlicher als andere. Von Laura Kingston
TRIGGERWARNUNG: Dieser Text enthält Beschreibungen von schweren Gewalttaten, was verstörend, belastend oder sogar retraumatisierend wirken kann.
Am Nachmittag des 3. Mai 2023 spielen Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Grundschule Neukölln auf dem Schulhof. Ein 29-jähriger Mann betritt den Schulhof und nähert sich den Kindern, sticht auf zwei Mädchen mit einem Messer ein. Sie schweben noch Tage danach in Lebensgefahr. Der mutmaßliche Gewalttäter ist psychisch krank. Ein Vorfall, über den Medien in ganz Deutschland berichten, was aber das Bild über Menschen mit psychischen Erkrankungen verzerrt.
Das Thema schlägt inzwischen auch politische Wellen: Die Berliner Senatorin für Inneres und Vorsitzende der Innenministerkonferenz, Iris Spranger (SPD), kündigte im Mai 2023 an, über die Prävention solcher Gewalttaten durch psychisch Erkrankte, wie sie es sagt, beraten zu wollen. Im Zuge dessen bezeichnete Spranger das Thema in einem Interview mit der "Welt am Sonntag" als "eines der drängendsten Handlungsfelder". Spranger zufolge müssten Behörden bessere Netzwerke untereinander abstimmen, auch um "frühzeitige Gefahrenpotentiale" zu erkennen.
Krisendienst sieht Datenaustausch über psychisch Kranke kritisch
Thore Würger, Leiter des Berliner Krisendienstes Neukölln, sieht den Vorschlag kritisch. Im Gespräch mit rbb|24 sagt er dazu: "Wenn das Ziel ist, möglichst schnell zu screenen, wer aufgrund einer psychischen Grunderkrankung gefährlich werden könnte, dann wäre das natürlich effektiv. Es hat aber einen ganz komischen Beigeschmack. Wenn jemand ein Hilfsangebot annimmt, weil es ihm oder ihr schlecht geht und Sorge haben muss, dass ich mich an die Polizei wende und denen sensible Daten weitergebe."
Wenn es jedoch bei der Vernetzung um eine Sensibilisierung der Rettungskräfte und Polizei gehe, sehe er das anders. Und eine solche Vernetzung finde auch schon statt - so gebe der Berliner Krisendienst Fortbildungen bei der Berliner Polizei im Umgang mit psychisch erkrankten Personen, die auffällig werden.
Erhöhtes Erkrankungsrisiko in Großstädten
Wie viele solcher Vorfälle es in Berlin in den letzten Jahren gegeben hat, bei denen Straftäter eine psychische Erkrankung haben, ist nicht bekannt. Auf Nachfrage von rbb|24 sagte eine Sprecherin der Berliner Polizei, man erhebe solche Zahlen nicht.
Wie viele Berliner und Berlinnerinnen tatsächlich mit ihrer Psyche zu kämpfen haben, kann nur geschätzt werden. Auf der Webseite des Bundesgesundheitsministeriums heißt es: "Fast jeder dritte Mensch leidet im Laufe seines Lebens an einer behandlungsbedürftigen psychischen Erkrankung."
Die Zahl könnte in Berlin sogar ein bisschen höher sein. Es gibt diverse Studien, die nahelegen, dass das Risiko, psychisch zu erkranken, in Großstädten höher ist. Stadtmenschen haben laut einer Studie der Charité ein doppelt so hohes Erkrankungsrisiko für Schizophrenie; für Depressionen liegt es beim 1,4-fachen im Vergleich zu Landbewohnern. Menschen allein aufgrund einer psychischen Erkrankung über einen Kamm zu scheren, wäre demnach also fatal.
Psychisch Erkrankte sind nicht gefährlicher als Gesunde
Aber auch bei den psychisch Erkrankten, die sich auffällig verhalten - salopp gesagt schreiende Menschen in Fußgängerzonen und andere, die Selbstgespräche führen, gilt für Thore Würger vom Berliner Krisendienst: Solche Begegnungen verfälschten den Eindruck. "Die Leute, die schreiend mit Einkaufswagen durch die Stadt rennen, sind in den meisten Fällen einfach nicht gefährlich. Und die wenigen, die gefährlich werden, werden medial so eng begleitet, dass da ein falscher Eindruck entsteht."
Statistisch gesehen stimme es zwar, dass psychiatrisch erkrankte Menschen eine höhere Wahrscheinlichkeit hätten, polizeilich auffällig zu sein, "aber zu sagen 'jemand, der schizophren ist, ist gefährlich', stimmt einfach nicht", so Würger.
Es tue ihm leid, dass die mediale Aufmerksamkeit, die einzelne Fälle bekommen, generell für eine Stigmatisierung von psychisch Erkrankten sorge.
"Menschen mit psychischen Erkrankungen sind nicht generell gefährlicher als psychisch gesunde Menschen", heißt es auch von Seiten der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (DGPPN).
Zuständigkeit liegt bei den Bezirken
Sollte es aber dazu kommen, dass psychisch Erkrankte gewalttätig werden, liegt die Zuständigkeit für deren Unterbringung bei den Bezirksämtern in Berlin. Die Sozialpsychiatrischen Dienste (Spd) agieren in den verschiedenen Bezirken und bieten - ebenso wie der Berliner Krisendienst - Hilfe für Menschen mit psychiatrischen Erkrankungen an. Dabei gibt es den Unterschied, dass der Berliner Krisendienst nur agiert, wenn die Person am Telefon Hilfe benötigt. Die Spd agieren auch, wenn eine dritte Person, die offenbar psychisch krank ist, eine Gefahr darstellt.
Die Sozialpsychiatrischen Dienste haben die Befugnis, Anträge zu stellen, um Menschen, die eine Gefahr für sich oder andere darstellen, ohne deren Einwilligung in psychiatrische Behandlung zu schicken. Die Entscheidung darüber, ob der Betroffene dann in eine geschlossene Psychiatrie kommt, trifft das Amtsgericht.
Das kann die Polizei unternehmen
Oft wird in gefährlichen Situationen mit Verhaltensauffälligen auch die Polizei angerufen. "Aufgrund ihrer Eilzuständigkeit" kommt die Berliner Polizei nach eigenen Angaben auch mit diesen Menschen in Berührung. Wie die Beamten mit der betroffenen Person verfahren, richtet "sich immer am Einzelfall aus", so die Polizei auf Anfrage von rbb|24. Es könnten - sollte die Polizei etwa während eines Zwischenfalls in der Öffentlichkeit hinzugerufen werden - nach eigenen Angaben folgendes passieren:
- Aushändigen von Hilfsangeboten an die betroffene Person beziehungsweise ihre Angehörigen
- Aktivierung des Helfendennetzwerkes in Berlin durch Übermittlung personenbezogener Daten an die originär zuständigen Behörden (Soll die betroffene Person ausschließlich der Beratung zugeführt werden, ist ihr Einverständnis zur Weitergabe der personenbezogenen Daten erforderlich.)
- Maßnahmen nach dem allgemeinen Gefahrenabwehrrecht am strengen Maßstab der Geeignetheit wie beispielsweise die Gefährderansprache gemäß § 18b ASOG Bln oder der Gewahrsam nach § 30 ASOG Bln
- vorläufige behördliche Unterbringung auf der psychiatrischen Station eines Krankenhauses (§ 23 Abs. 2 PsychKG Bln)
Zu einer Behandlung kann (fast) niemand gezwungen werden
Allerdings ist eine Unterbringung gar nicht immer garantiert. Und in den allermeisten Fällen kann man niemanden dazu zwingen, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben. Das muss - wenn keine wirkliche Gefahr von dem Menschen ausgeht - jeder selbst entscheiden.
Gut so, sagt Thore Würger vom Berliner Krisendienst: "Wenn jemand augenscheinlich verhaltensauffällig ist, würden die meisten sagen: Ok, eine psychiatrische Behandlung würde Sinn ergeben." Er hielte es allerdings für fatal, wenn es einen Paradigmenwechsel gäbe zu: Man müsse den Leuten nur doll genug die Behandlung aufdrängen, dann müsse man auch keine Angst vor ihnen haben.
Aber: Wer Hilfe sucht und sich entscheidet, hat noch lange keine Garantie auf eine Behandlug in Psychiatrien. Laut Thore Würger fehlen Betten auf den psychiatrischen Stationen von Berliner Krankenhäusern. "Die Betten sind belegt. Psychiatrische Stationen in Krankenhäusern triagieren tagtäglich. Wenn du dahin gehst und sagst: Ich habe eine Krise, würde mich aber nicht umbringen - dann nehmen sie dich nicht auf."
Könnte man bei den sehr wenigen wirklich gefährlichen Verhaltensauffälligen überhaupt Straftaten verhindern?
"Wir müssen uns genau die Fälle angucken. Wir müssen uns genau angucken, was da passiert ist. Wenn der Mensch in Behandlung war, wieso hat der behandelnde Arzt nicht festgestellt, dass der eigen- oder fremdgefährdend ist?", sagt Thore Würger vom Berliner Krisendienst. Es tue sich allerdings schon einiges - heutzutage seien die Menschen viel offener, über psychische Probleme zu reden und in Behandlung zu gehen als noch vor einigen Jahrzehnten.
Anmerkung der Redaktion: Dieser Text wurde nachträglich geändert und u.a. an einigen Stellen "Psychisch Kranke" durch "Verhaltensauffällige" ersetzt.