Stadtführung in Berlin-Charlottenburg - Obdachlos auf schicken Straßen
Dieter Bichler lebte auf der Straße, das ist zwölf Jahre her. In seiner Tour "Obdachlos auf schicken Straßen" klärt er über sein altes Leben auf. Und geht an die Orte zurück, an denen er in kalten Winternächten schlief. Von Marvin Wenzel
Den Vorplatz des Konzertsaals der Universität der Künste in der Hardenbergstraße ziert eine ungewöhnliche Skulptur. Große schwarze PVC-Röhren sind in drei Gruppen angeordnet. Und so miteinander verbunden, sodass sie einen Bogen bilden. Für die einen ist das Kunst, für Dieter Bichler aber noch etwas Anderes: Er sieht in der Plastik einen Wäschetrockner.
Bichler legt seine rechte Hand auf eine der Röhren und sagt: "Wenn die Sonne scheint, wird das Ding richtig heiß. Wir haben hier unsere Wäsche getrocknet." Mit "wir" meint er eine Gruppe von sieben Menschen, mit denen er zusammen auf der Straße lebte.
Das ist zwölf Jahre her. Bichler - 55, lange graue Haare, schwarze Sonnenbrille, obwohl es bewölkt ist - war damals obdachlos. Während er diese Geschichte erzählt, steht eine Gruppe von zehn jungen Menschen vor ihm. Sie hören aufmerksam zu – und nehmen an der Tour "Obdachlos auf schicken Straßen" teil.
Bichler geht dabei an die Orte zurück, an denen er damals gelebt hat. Die Tour beginnt am Bahnhof Zoo. Bichler gibt ein Foto herum aus seiner Zeit auf der Straße. Das Bild zeigt ihn auf einem Gitterrost am Bahnhof Zoo. Auf dem Gitter schlief er oft in kalten Winternächten – weil aus ihm die warme Abluft der U-Bahn strömte.
Er nächtigte nie alleine. Zu gefährlich. Immer nur mit seiner Gruppe. "Wir haben wie eine Familie gelebt", sagt er. "In der Nacht haben vier Leute geschlafen und die anderen vier haben aufgepasst." Sie hätten auch ihr Essen geteilt und sich gegenseitig beim Überleben unterstützt. Mit dem Sammeln von Spenden und Pfandflaschen schlug Bichler sich damals durch.
Schicke Geschäfte, Kinos, Bars – und zwischendrin versteckt: Obdachlose
Weiter geht’s. Die Hardenbergstraße hoch zur schwarzen Skulptur vor der UdK. Bichler voran – die jungen Menschen, eine Gruppe Freiwillige von der Tafel Deutschland, hinterher. Das Straßenbild der Charlottenburger Straße ist geprägt von schicken Kinos, einem Theater und Bars. Zwischendrin, fast unsichtbar, ist Bichlers ehemaliges zu Hause versteckt. Schlafplätze und Lebensräume von obdachlosen Menschen.
Zum Beispiel auf der Höhe vom Steinplatz: Dort sind mehrere Büsche und Bänke, die auch Bichler als Schlafplatz nutzte. Er zeigt auf silberne Metallkugeln auf der Oberfläche der Bänke und erklärt: "Das ist defensive Architektur!"
Das bedeutet: Die Bänke seien extra so gestaltet, dass sie durch die Metallkugeln unbequem für obdachlose Menschen werden und dadurch zum Schlafen nicht geeignet sind.
Er erzählt von weiteren Hürden, die ihm und seiner Straßen-Familie früher das Leben erschwerten: In U-Bahnhöfen dürfen sich Obdachlose offiziell nur mit einem gültigen Fahrschein aufhalten. Sonst werden sie sofort weggeschickt und ihnen droht ein Bußgeld. Wenn sie beim Schwarzfahren erwischt werden, werden sie häufig sogar weggesperrt.
Einer der wenigen, die es von der Straße geschafft haben
Hinzu kommt: Wer Essen aus einem Mülleimer nimmt, begeht rein rechtlich eine Straftat. Der Müll gilt als Eigentum des Mülleimer-Besitzers. In den meisten Fällen: die Berliner Stadtreinigung.
Deswegen gilt es theoretisch als Diebstahl, wenn man einen Apfel aus dem Müll fischt. Passend dazu geht es bei der Tour direkt danach um Hunger. "Ab dem vierten, fünften Tag ohne Essen fühlt sich das an, als wenn dir jemand 'ne Zange an den Magen legt und den rausziehen möchte", sagt Bichler zu einer Woche, in der "der Wurm drin" war und seine Gruppe und er kaum Spenden sammeln konnten.
Beim Erzählen hängen die Teilnehmer an seinen Lippen. Dieter Bichler ist einer der wenigen, die es wieder von der Straße weggeschafft haben. Sechs seiner sieben Weggefährten sind mittlerweile verstorben. Kälte, Krankheiten, Drogensucht.
"Um endgültig von der Straße wegzukommen, brauchst du einen helfenden Menschen", sagt Bichler. In seinem Fall war das ein Polizist, der ihn zusammen mit einem Sozialarbeiter an ein betreutes Wohnprojekt vermittelte. Von da aus konnte Bichler wieder nach einem Job und einer Wohnung schauen. Erfolgreich.
Ob er es ohne diesen Polizisten aus der Obdachlosigkeit geschafft hätte? Er sagt: "Auf keinen Fall."
Seine Tour bietet Bichler zehnmal im Monat an. Sie läuft über den Verein "Querstadtein", der das Ziel hat, Berliner und Touristen über die Lebensrealität obdachloser Menschen aufzuklären.
Für Bichler sind das jedes Mal "kleine Zeitreisen" in seine Vergangenheit. Er sagt: "Gerade jungen Menschen möchte ich mein Wissen weitergeben, damit sie nichts falsch machen und selbst irgendwann in Schwierigkeiten geraten." Sein Rat: Keine Drogen. Und: keine Scheu davor haben, Hilfe in Anspruch zu nehmen. Vor allem dann, wenn man sie wirklich braucht.
Ihm hätte das viel Leid ersparen können. Als ihm seine Vermieterin aufgrund von Eigenbedarf kündigte und er keine neue Wohnung fand, war er zu stolz, um seine Familie und Freunde um Hilfe zu bitten. "Das war mir zu unangenehm", sagt er. Doch dann landete er auf der Straße. "Das war natürlich viel schlimmer."
"Über ein Lächeln hätte ich mich besonders gefreut"
Auf seinen Stadtführungen wird er häufig gefragt, wie man auf Obdachlose am besten zugehen und ihnen helfen kann. Das Wichtigste: ihnen auf Augenhöhe begegnen. "Ich hätte mir gewünscht, dass mich wenigstens die Hälfte der Menschen beachtet", sagt er. "Über ein Lächeln hätte ich mich besonders gefreut."
Es würde auch wenig nützen, Obdachlosen "einfach irgendetwas" zu schenken. Viel besser sei es, Obdachlose zu fragen, was sie gebrauchen könnten. Oft seien das günstige Dinge wie eine Aluminiumdecke, die nur wenige Euro kostet. Aber im Winter bei Minusgraden Leben retten kann.
Die letzte Station seiner Führung ist der Savigny-Platz. Die Jugendlichen versammeln sich noch einmal um den 55-Jährigen, der seit knapp zehn Jahren wieder in einer Wohnung lebt und neben seinem Job als Stadtführer in einer Unterkunft für Geflüchtete arbeitet.
Was die Jugendlichen wohl mitnehmen von dem zweistündigen Spaziergang? "Ich habe gelernt, wie schwierig es für Obdachlose ist, einen Ort zu finden, an dem sie sich sicher aufhalten und schlafen können, besonders im Winter", sagt eine Teilnehmerin. Gerade die defensive Architektur der Parkbänke habe sie schockiert.
Ein weiterer Teilnehmer sagt noch: "Durch die Tour ist meine Wertschätzung für Obdachlose gestiegen." Jetzt kenne er die "Schattenseiten" des Lebens auf der Straße besser und sei eher dazu bereit, Obdachlosen mit Spenden zu helfen.
Dieter Bichlers Tour hat die Jugendlichen nachdenklich gemacht – auch im Umgang mit Vorurteilen gegenüber Menschen, die auf der Straße leben.
Nach der Tour geht Bichler zu seinem Lieblingscafé: Den "Kuchenladen" in der Kantstraße. Im Schaufenster sind mehrere Sorten Erdbeer-, Nuss- und Schokoladenkuchen liebevoll angerichtet. Aus dem Café strömt ein süßlicher Geruch. "Dort gibt es den besten Kaffee und Kuchen in Charlottenburg", sagt Bichler.
Davon habe er in seiner Zeit als Obdachloser nur träumen können.
Sendung: rbb24 Abendschau, 15.12.2023, 19:30 Uhr