Bundestag beschließt Pflegegesetz - Zu wenig, zu spät, zu bürokratisch
In keinem anderen Bundesland befinden sich so viele Menschen in häuslicher Pflege wie in Brandenburg. Für die pflegenden Angehörigen sollte die am Freitag beschlossene Pflegereform Erleichterung bringen - doch das tut sie nicht, sagen Kritiker. Von Katrin Neumann
Seit zwei Jahren pflegt Erika Sander ihren Mann Dieter. Der 84-Jährige hat Demenz. Zuerst habe er nur Wege vergessen und fand nicht mehr nach Hause, erzählt Frau Sander. Aber dann habe ihr Mann auch mal den Herd angelassen und konnte sich nicht daran erinnern. Seitdem sorgt Frau Sander dafür, dass ihr Mann betreut wird. Meistens übernimmt sie das selbst. Körperpflege, Beschäftigung gegen Langeweile und Einhalten von Terminen ihres Mannes, jeden Dienstag Physio- und jeden Donnerstag Ergotherapie.
Viel Zeit für sich selbst hat sie nicht. "Irgendwie habe ich gemerkt, dass man ja auch nur ein gewisses Level hat, um den Tag durchzustehen. Und als es schwieriger wurde, brauchte ich Hilfe. Ich habe auch Pflegegrad drei für meinen Mann bekommen, aber um alles andere musste ich mich selbst kümmern", fasst die 81-Jährige ihre Erfahrungen seit der Diagnose zusammen. Frustrierend seien die "vielen Anträge und Schreiben. Das müsste unkomplizierter sein, sonst verliert man den Mut", so empfindet es Erika Sander, nachdem sie unzählige Formulare für Pflegedienste, Hilfsmittel und Tagesbetreuung ausgefüllt hat.
Für weniger Bürokratie sorgen die am Freitag im Bundestag beschlossenen Maßnahmen des Pflegeunterstützungs- und -entlastungsgesetzes allerdings nicht. Die sogenannte Pflegereform bringt etwas mehr Geld für Pflegebedürftige und mehr Spielraum bei Auszeiten bzw. Vertretungen für pflegende Angehörige. Finanziert wird das Pflegepaket durch höhere Beiträge zur Pflegeversicherung.
Das ändert sich in der Pflege
Ab Juli erhöht sich der allgemeine Beitrag zur Pflegeversicherung um 0,35 Prozentpunkte. Eltern mit einem Kind zahlen dann 3,4 Prozent. Jedes weitere Kind verringert diesen Beitrag jeweils um 0,25 Prozentpunkte. Eltern mit fünf Kindern zahlen also 2,4 Prozent Pflegebeitrag. Mehr Kinder reduzieren den Beitrag nicht. Menschen ohne Kinder zahlen 4 Prozent Pflegeversicherungsbeitrag.
Davon soll ab 2024 die Leistung für ambulante Pflege erhöht werden. Pflegebedürftige, die zu Hause betreut werden, erhalten dann fünf Prozent mehr sogenanntes Pflegegeld, das sie in der Regel an diejenigen abgeben, die sich um sie kümmern. 2025 wird diese Leistung noch einmal um 4,5 Prozent erhöht.
Außerdem wird die Verhinderungs- und Kurzzeitpflege zu einem jährlich verfügbaren Entlastungsbudget zusammengelegt. Eltern, deren Kinder Pflegegrad 4 oder 5 haben, können ab Januar 2024 über 3.386 Euro verfügen, um ihr Kind ambulant oder stationär pflegen zu lassen, wenn sie beispielsweise in den Urlaub fahren oder selbst krank sind. Bislang gibt es einen festen Betrag für Kurzzeit- und einen festen Betrag für Verhinderungspflege. Ab Mitte 2025 gilt das Entlastungsbudget für alle Anspruchsberechtigten und wird dann auf 3.539 Euro erhöht.
Berufstätige Angehörige, die einen Familienangehörigen pflegen, können ab 2024 jedes Jahr zusätzlich zehn Tage bezahlt frei nehmen. Bisher war das nur einmalig pro Pflegefall möglich. Menschen, die in einem Pflegeheim leben, bekommen ab nächstem Jahr einen höheren Zuschuss zu ihrem Eigenanteil. Der richtet sich danach, wie lange der Bewohner schon im Heim wohnt.
Sozialpolitiker und Sozialverbände kritisieren Reformgesetz scharf
Die Neuerungen greifen vielen zu kurz. Es hagelt bundesweit Kritik aus Verbänden und den Ländern, auch aus Brandenburg. Während das Entlastungsbudget grundsätzlich begrüßt wird, sei die "Reform ansonsten enttäuschend und der Größe des Problems nicht angemessen", sagt Sozialministerin Ursula Nonnemacher (Bü90/Grüne). Die Anhebung des Pflegegeldes gleiche nicht einmal die Inflation aus. "Das heißt, die Menschen werden sich weniger Pflegeleistung für dieses Geld kaufen können, das ist sehr enttäuschend. Insgesamt ist das ein Herumdoktern und das reicht nicht aus", so die ernüchternde Einschätzung Nonnemachers.
Auch der Wohlfahrtsverband Der Paritätische Brandenburg sieht das Pflegesystem insgesamt in Schieflage, wobei auch die aktuelle Reform nicht helfe. "Die Pflegeversicherung ist unterfinanziert. Es gibt Immer weniger Beitragszahler und auf der anderen Seite immer mehr Pflegebedürftige. Wir brauchen mehr Geld vom Bund aus Steuergeldern, um die Pflegeversicherung in die Lage zu versetzen, auch in Zukunft die jetzige Qualität von Pflege aufrecht zu erhalten." Geschehe das nicht, so Andreas Kaczynski, werde die Pflege leiden. "Wir kommen mit der jetzigen Reform nicht weit. Wir haben eine gewissen Stabilisierung für die nächsten eins, zwei, drei Jahre vielleicht. Aber das ist natürlich nichts, was auf Dauer tragfähig ist. Das ist also kein nachhaltiges Konzept."
In Würde alt werden
Erika und Dieter Sander wünschen sich noch viele gemeinsame Jahre zu Hause miteinander. Das möchte Frau Sander ihrem Mann ermöglichen, solange sie selbst die Betreuung leisten kann. Gedanken macht sich die Rentnerin, wie Pflege in Zukunft funktionieren kann.
"Vielleicht sollte der Staat mal überlegen, ob das die richtige Form ist: einen Antrag zu stellen, damit ich einen Zuschuss kriege, damit ich eine Leistung bekommen kann. Es ist nicht würdig für einen älteren Menschen, der so viele Jahre gearbeitet hat, dann als Bittsteller dazustehen. Ich gehe nicht nur von mir aus. Ich gehe von den vielen aus, denen es weniger gut geht", sagt Erika Sander besorgt.
Sendung: rbb24 Inforadio, 26.05.2023, 9:40 Uhr