Von Protest bis Bedrohung - Der Gaza-Krieg ist an den Berliner Hauswänden angekommen
"Free Palestine" oder auch "FCK HMS" - Graffiti und Parolen im Berliner Stadtbild spiegeln die hohe Emotionalität im Bezug auf den Nahost-Konflikt wider. Zuletzt tauchten immer mehr rote Dreiecke auf.
Berlin-Kreuzberg, unweit des Kottbusser Tors: Entlang einer ganzen Straße wurde im Abstand von ungefähr fünf Metern immer wieder der Slogan "Free Palestine" angebracht. Einem Graffito wurde der Zusatz "from German guilt" hinzugefügt. Bei einem anderen – wenige Schritte entfernt – hat jemand "Palestine" durchgestrichen und in großen roten Lettern "from Hamas" hinzugefügt. Auch dieser Zusatz wurde anschließend erneut durchgestrichen und übermalt. Auf einem Stromkasten auf der anderen Straßenseite kleben mehrere Sticker mit der Aufschrift "FCK HMS", kurz für "Fuck Hamas".
Vor allem im Berliner Innenstadtbereich, egal in welchem Bezirk – in U-Bahnstationen, auf Wahlplakaten, Straßenschildern oder Hauswänden - finden sich Bekenntnisse zum Krieg in Gaza. Die Polarisierung bei diesem Thema ist auf Berlins Häuserwänden deutlich zu erkennen - im Kleinen scheint hier ein Kampf um die Deutungshoheit ausgebrochen zu sein. Der ist zwar lautlos, aber nicht zu übersehen. Die Abgrenzung zwischen Statement, Protest, Bedrohung oder gar antisemitischer Hetze ist selten eindeutig festzustellen.
Berliner Register sammelt Vorfälle von Diskriminierung und Antisemitismus
Kati Becker leitet das Berliner Register, eine Sammelstelle für diskriminierende Vorfälle in Berlin - etwa Rassismus, Antisemitismus, Queer- oder Behindertenfeindlichkeit. Berlinerinnen und Berliner können Vorfälle melden, diese werden verifiziert, in einer Online-Chronik veröffentlicht und einmal jährlich ausgewertet. Die Ergebnisse sollen dann etwa Politik und Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden. Im Unterschied zur polizeilichen Kriminalstatistik landen hier auch solche Fälle, die keine Straftaten sind. Das Projekt wird vom Senat gefördert.
Becker schiebt ihr Fahrrad durch eine Seitenstraße am Kottbusser Tor. An einer Häuserwand prangt ein riesiges "Free Gaza Now"-Graffito. "Im Zusammenhang mit dem Konflikt in Israel und Gaza ist es natürlich gar nicht so leicht zu sagen, ab wann etwas antisemitisch ist und ab wann nicht", sagt Becker.
"Free Gaza Now würden wir nicht als antisemitische Parole aufnehmen. Es betrifft weder alle Jüd:innen in Berlin, noch die Jüd:innen in Israel, sondern ist eine Parole, in der es darum geht, die Situation in Gaza zu verändern. Wenn man sie jetzt an eine Synagoge sprühen würde oder an die Haustür von jüdischen Menschen, dann würden wir es schon als antisemitischen Vorfall aufnehmen, weil dann eben Jüdinnen und Juden direkt adressiert werden würden."
Israel-Kritik oder Antisemitismus?
Ein paar Meter weiter – an der Front eines Ladenlokals – steht in schwarzen großen Lettern "Intifada". "Das fotografiere ich gleich mal für die Kolleg*innen", sagt Becker und macht Fotos mit ihrem Handy.
"Das würden wir aufnehmen. Die Intifada ist nicht einfach ein Befreiungskampf - sondern es geht darum, Israel militärisch zu bekämpfen. Die Intifada zu fordern, heißt letztendlich, die militärische Auseinandersetzung durch die Hamas mit Israel zu forcieren." Dem Argument, dass nicht alle Menschen "Intifada" automatisch als Gewaltaufruf gegen jüdische Menschen interpretieren, kann Becker nichts abgewinnen.
"Die Frage ist nicht immer, wie sendet man eine Botschaft ab, sondern wie kommt sie an bei denjenigen, die adressiert werden. Wenn man hier "Intifada" an die Wand schreibt, fühlen sich insbesondere Jüdinnen und Juden angesprochen, denn andere Leute sind davon nicht groß betroffen." Der Vorfall wird nun als "antisemitische Progaganda in Kreuzberg" ins Berliner Register aufgenommen.
IHRA-Definition für viele Organisationen und Regierungen maßgeblich
Das Berliner Register stützt sich bei der Einordnung von Vorfällen auf die Arbeitsdefinition zu Antisemitismus der "Internationalen Allianz zum Holocaustgedenken" (IHRA). Diese lautet: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen." Viele internationale Organisationen und Regierungen haben sich dieser Definition angeschlossen, auch die Bundesregierung beruft sich darauf.
Die Nutzung der Definition wird aber auch kritisiert – vor allem als rechtliche Grundlage für behördliches Handeln. In einer Stellungnahme im "Verfassungsblog" aus dem Dezember 2023 etwa sprachen sich mehrere Jurist:innen kritisch gegen eine Implementierung der Definition als rechtliches Regulierungsinstrument aus. Die Argumente der Autor:innen unter anderem: Die Definition sei zu unpräzise, eine rechtliche Umsetzung könne zu verfassungsrechtlichen Problemen und insbesondere zu einer unvorhersehbaren Behördenpraxis führen. Auch Meinungs- und Kunstfreiheit könnten beeinträchtigt werden.
Polizei macht Graffiti selbst unkenntlich
Zurück ins Berliner Stadtbild: Besonders relevant wird die Abgrenzung von legitimer Israel-Kritik und Antisemitismus dann, wenn Behörden oder Polizei darüber entscheiden müssen. Graffiti sind grundsätzlich Sachbeschädigungen. In der Regel sind die Bezirke für deren Beseitigung im öffentlichen Raum zuständig.
So teilt das Bezirksamt Neukölln auf rbb-Anfrage mit, dass ein Graffito grundsätzlich als unzulässig erachtet und entfernt wird, soweit bezirkliche Einrichtungen betroffen seien – ganz unabhängig vom Inhalt. "Soweit erforderlich, werden Meldungen zu unklar einzuordnenden Äußerungen an den Polizeilichen Staatsschutz zur Klärung und ggf. zur Aufnahme von Ermittlungen weitergegeben", heißt es vom Bezirk.
Die Polizei Berlin macht bestimmte Graffiti allerdings auch selbst unkenntlich. So haben Beamte etwa Freitagabend den Schriftzug "Free Gaza" und das umgekehrte rote Dreieck auf der Rückseite eines Wahlplakates in Schöneberg mit Sprühkreide übermalt, wie ein Polizeisprecher bestätigte. Wie die Polizei mitteilte, würden Graffitis oder andere Farbschmierereien "inhaltlich sowie nach den Umständen der Zurschaustellung einzelfallbezogen auf eine Strafbarkeit geprüft." In der Regel liege dabei ein Anfangsverdacht wegen Sachbeschädigung oder gemeinschädlicher Sachbeschädigung vor.
Bislang sind weder der Ausspruch "Free Gaza" noch das Symbol des roten Dreiecks verboten. Trotzdem übernehme in allen Fällen im Kontext des Gaza-Krieges der Polizeiliche Staatsschutz beim LKA die rechtliche Einschätzung, so ein Polizeisprecher. "In Einzelfällen obliegt der Polizei Berlin zunächst die Unkenntlichmachung entsprechender Symboliken", heißt es. Seit dem 7. Oktober 2023 hat die Polizei Berlin insgesamt 1.123 Strafanzeigen wegen Sachbeschädigungen im Nahost-Bezug erfasst.
Das rote Dreieck in Berlin
Das rote Dreieck taucht in Berlin vermehrt seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober und der Bodenoffensive Israels im Gaza-Streifen auf. Zuletzt wurden damit unter anderem die Zentrale des "Tagesspiegel", der Techno-Club "about blank", sowie die Kneipe "Bajszel" in Neukölln "markiert".
Der Verein "democ" analysiert demokratiefeindliche Bewegungen online und offline – Linus Kebba Pook ist Teil der Geschäftsführung. Auf dem Bildschirm vor ihm erscheinen Fotos von israelischen Panzern – über ihnen ist das rote Dreieck eingefügt – im nächsten Bild explodieren sie. Die Ästhetik erinnert an Ego-Shooter-Spiele. Laut Democ markiert die Hamas mit dem Dreieck feindliche Ziele im Gaza-Krieg.
Kebba Pook zeigt auch Beispiele, wo und wie das rote Dreieck in den letzten Monaten in Deutschland auftauchte – etwa auf der Statue in der Mitte des Hermannplatzes, auf Plakaten über den Köpfen von Olaf Scholz und Benjamin Netanjahu. Über die Deutung dieses Symbols wird auch in Deutschland gestritten. Aus den Kreisen der palästina-solidarischen Bewegung verwehrt man sich zum Teil dem Eindruck, dass man es hier mit einer "Feindmarkierung" der Hamas zu tun hat. Democ sieht das anders.
"Diese Verwendung entstammt eindeutig der Propaganda der Hamas"
"Das Symbol des roten Dreiecks gibt es schon lange", sagt Linus Kebba Pook. "Das gab es, um politisch Verfolgte im Nationalsozialismus zu markieren. Das Dreieck ist auch Bestandteil der palästinensischen Flagge. Im Kontext der Palästina-Solidarität in Deutschland und in Europa, die es mindestens seit den Sechzigerjahren gibt, ist dieses Symbol vorher nie aufgetaucht. Also entstammt diese Verwendung eindeutig der Propaganda der Hamas."
Auch während der Besetzung des sozialwissenschaftlichen Instituts an der Berliner Humboldt-Universität durch pro-palästinensische Demonstrierende wurde es an verschiedenen Stellen in der Universität angebracht. Als Reaktion sprach sich die Berliner Innensenatorin Iris Spranger (SPD) gegenüber dem "Tagesspiegel" für ein Verbot des Symbols aus, verwies aber auf die Zuständigkeit des Bundes.
Sendung: rbb24 Inforadio, 28.05., 14:20