49-Euro-Ticket aus Sicht von Menschen mit Behinderung - "Wenn jetzt die Züge voll sind, gilt nur noch das Prinzip 'Survival of the Fittest'"
Das bundesweite 49-Euro-Ticket soll den ÖPNV attraktiver machen. Doch für Menschen mit Behinderung ist es kein Gewinn. Weder ist es barrierefrei zu erhalten, noch wirkt es integrativ. Im Gegenteil: Es schließt behinderte Menschen weiter aus. Von Jenny Barke
Fragt man Cécile Lecomte, ob sie an diesem Freitagvormittag eine gute Reise von Lüneburg nach Berlin hatte, bekommt man eine lange Antwort. Die Umweltaktivistin sitzt seit fünf Jahren wegen ihres Rheumas im Rollstuhl und ist auf barrierefreie Verkehrsmittel angewiesen. Schon die Busfahrt von ihrem Wohnort zum Lüneburger Bahnhof wurde zum Hindernis. Die aufklappbare Rampe war kaputt, der Fahrer trug sie mit ihrem leichten Rollstuhl in den Bus. "Das wäre mit einem Elektrorollstuhl nicht gegangen."
Doch sie brauchte den Bus, um ihren Zug nach Hannover nicht zu verpassen. Der fuhr trotzdem ohne sie, wegen eines Gleiswechsels. Der Aufzug war defekt, sie kam nicht auf das andere Gleis.
Stattdessen eine Fahrt über Büchen, beim Einstieg Hilfe von zwei Menschen ohne Behinderung. "Ich habe mich an den Stangen hochgezogen, die Menschen haben meinen Rollstuhl reingetragen." Lecomte bezeichnet sich auch als Kletteraktivistin, ist mit anderen Demonstranten vergangenen Sommer sogar die Fassade des Bahnhofs Frankfurt West raufgeklettert, um gegen fehlende Aufzüge zu protestieren.
Geholfen hat es dort nicht. Aber die Aufmerksamkeit sei wichtig, sagt sie. Deshalb habe sie auch an diesem Freitag keine Mühen gescheut, nach Berlin zu kommen.
Aktion "Mit Verspätung ist zu rechnen"
Gemeinsam mit anderen Demonstranten trifft sie am Nachmittag vor dem Brandenburger Tor zusammen. Der 5. Mai ist der "Europäische Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung". Bevor die Demo startet, haben einige Rollstuhlfahrende eine Art Flashmob geplant. Unter dem Motto "Mit Verspätung ist zu rechnen" sind sie zeitgleich aus verschiedenen Städten Deutschlands nach Berlin gereist - mit ICEs.
Die Idee zu der Aktion hatte die Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben Deutschland (ISL) [isl-ev.de]. Etwa 50 Menschen haben dafür mehrere ICEs genutzt und für jede Fahrt einen Hublift angemeldet. Damit sei die Deutsche Bahn gut beschäftigt, sagt ISL-Sprecher Alexander Ahrens, der selbst im Rollstuhl sitzt.
"Wir wurden schon gefragt, ob wir wollen, dass die Bahn zu spät kommt." Behinderte Menschen würden oft als Grund angegeben, wenn die Bahn Verspätung habe. Dabei würden sie die Bahn nur aufhalten, weil sie immer Hilfe bräuchten beim Ein- und Aussteigen. "Wir werden auch noch als Schuldige abgetan. Wir sind nicht nur Bittstellende, sondern auch Störende im System. Das ist Diskriminierung", so Ahrens.
Survival of the Fittest
Das bundesweite Nahverkehrs-Abo, das seit dem 1. Mai gilt, verschlimmere die Lage noch, sagt Ahrens. Schlechte Erfahrungen habe er bereits mit dem 9-Euro-Ticket gemacht, dem dreimonatigen Vorläufer-Angebot des 49-Euro-Tickets: Die Bahnsteige waren zu voll, die Abteile vollgerammelt, das Bahnpersonal nicht auffindbar. "Wenn jetzt die Züge überfüllt sind, haben wir das Problem, dass Menschen mit Behinderung nicht reinkommen und eigentlich nur noch das Prinzip 'Survival of the Fittest' gilt. Das kann es nicht sein", so Ahrens.
Auch für die rollstuhlfahrende Aktivistin Cécile Lecomte löst das sogenannte Deutschlandticket, mit dem man den Regionalverkehr bundesweit nutzen kann, nur Stress aus. Sind die Züge voll, werden ohne Voranmeldung ältere Ersatzzüge eingesetzt. "Die können wir nicht spontan nutzen, denn da ältere Züge Stufen haben, müssen wir zuvor über eine Hotline eine Rampe buchen."
Überhaupt, die Hotline: Die Servicenummer für Menschen mit Behinderungen, die eine Zugfahrt anmelden möchten, steht auf der gleichen Webseite wie die Servicenummer für Fragen zum 49-Euro-Ticket. "Weil viele die Nummern verwechseln, rufen jetzt noch öfter Menschen ohne Behinderung die Hotline für unsere Voranmeldung an, wir kommen nicht mehr durch", erklärt Ahrens.
49-Euro-Ticket nicht barrierefrei kaufbar
Hinzu kommt, dass Menschen mit Behinderung im Fall zu voller Züge, überforderten Personals oder nicht angemeldeter Rampen ihre Tickets nicht erstattet bekommen.
Dabei schließt das Ticket nicht nur Rollstuhlfahrende aus. Auch viele andere Gruppen behinderter Menschen würden nicht mitgedacht, kritisiert ILS-Sprecher Ahrens. Das neue Konzept sei sogar noch schlimmer als das 9-Euro-Ticket: "Das Sommerticket konnte man wenigstens noch bar am Automaten bezahlen, das war ausgedruckt und ohne Endgerät vorzeigbar." Das 49-Euro-Ticket ist hingegen nur noch über zwei Wege erhältlich: digital oder am Schalter.
Beides schließe viele Menschen mit Behinderungen aus. Sehbehinderte Menschen haben Probleme, das Ticket online zu kaufen, denn die Webseite ist nicht mit einem sogenannten Screenreader, einem Lese-Tool für Sehbeeinträchtigte getestet worden. Zudem kann online nicht bar gezahlt werden. "Das schließt per se schon viele Menschen aus, die nur mit Bargeld zahlen können und dürfen, weil sie vielleicht unter Betreuung stehen." Für den Kauf am Schalter braucht man hingegen Durchhaltevermögen: "Dann bilden sich lange Schlangen vor den Anbietern, dem Kundenservice."
Keine Lobby für behinderte Menschen
Dabei ist das Problem bekannt, wie Ahrens sagt, schon zur Einführung des 9-Euro-Tickets hätten sich Behindertenverbände an das Bundesverkehrsministerium und die Deutsche Bahn gewendet. Bis heute hätten die Verbände keine Zusage bekommen, dass Rollstuhl-Abteile freigehalten, Kapazitäten erhöht oder barrierefreiere Ticketkäufe ermöglicht würden. "Behinderte Menschen haben in Deutschland keine Lobby, das ist das Problem, auch wenn wir die größte Minderheit in Deutschland sind." Ihre Probleme würden nicht interessieren, weil diejenigen, die in der Politik entschieden, nicht davon betroffen seien, kritisiert Ahrens.
Eine Verkehrswende könne nur gelingen, wenn Politik und Bahn auf die Forderungen eingehen, sagt auch Rollstuhlfahrerin Cécile Lecomte. Es brauche Großinvestitionen bei der Infrastruktur, gesicherte Aufzüge an allen Bahnhöfen, mehr Züge mit Plätzen für Rollstuhlfahrenden und mehr Personal, das rund um die Uhr bei den Fahrten helfe.
Dafür wollen sie, Alexander Ahrens und andere Menschen mit Behinderung, an diesem Protesttag demonstrieren. Erster Halt ihres Demozugs: Das Bundesverkehrsministerium. Symbolisch nageln sie ihre Forderungen mit Pfeil und Bogen an die Türen des Ministeriums. Denn selbst überbringen können sie diese nicht - der Haupteingang vom Verkehrsministerium ist nicht barrierefrei.
Sendung: rbb Abendschau, 05.05.2023, 19:30 Uhr