Persönlicher Rückblick auf 2023 - Berlin, wie wäre es mit einem gemeinsamen Vorsatz zum Neuen Jahr?

So 31.12.23 | 17:24 Uhr | Von Fabian Stratmann
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Symbolbild: Ein Paar sitzt auf dem Drachenberg und beobachtet den Sonnenaufgang. (Quelle: dpa/Jörg Carstensen)
Bild: dpa/Jörg Carstensen

2023 wird in Berlin wohl nicht mit den besten Nachrichten in Erinnerung bleiben. Die Stimmung in der Hauptstadt ist zuletzt für viele ungemütlicher geworden. Zeit, gemeinsam gute Vorsätze zu fassen - ehe Berlins Ruf ganz dahin ist, meint Fabian Stratmann.

An diesem 31. Dezember ist es also wieder so weit: Wir sitzen zusammen, blicken zurück und nehmen uns vor, im nächsten Jahr vieles anders, vor allem aber natürlich besser zu machen. Mehr Sport, weniger rauchen und generell besser mit sich umgehen. Die meisten guten Vorsätze scheitern dann übrigens, weil wir es allein versuchen.

Warum also nicht mal gemeinsam einen Vorsatz finden und den am Ende in dieser Stadt auch wirklich umsetzen? Ich komme nicht umhin, darauf zu hoffen, dass in Berlin im kommenden Jahr wirklich einiges anders, vor allem aber besser läuft.

Vor zwei Wochen stand ich, wie es sich bei einer gute Privatparty gehört, mit ein paar Leuten in einer Küche, die meisten rauchten, hatten ein Glas Wein in der Hand und erzählten sich, warum sie eigentlich nach Berlin gekommen waren. Klassiker. Die meisten sind ja zugezogen. So auch wir. Carla und ihr Mann David. Beide sind Juden. Und dann waren da Dominik, Simon, Alex und ich. Wir sind schwul. Wir alle tranken, rauchten (mehr oder weniger freiwillig) und wir erzählten uns von diesem einen Zitat:

"Du bist verrückt mein Kind, du musst nach Berlin!"

Franz von Suppé - österreichischer Komponist - soll den Satz vor über 100 Jahren in die Welt gesetzt haben. Es wurde ein Versprechen. Hier in Berlin kann man sein, wer man will. Hier in Berlin muss keiner Angst haben, angefeindet zu werden, weil man ist, wie man ist. Deshalb sind wir alle nach Berlin gekommen - und um es jetzt schon vorwegzunehmen: Wir alle haben nach diesem Jahr ernsthafte Zweifel, dass der Satz noch gilt. Aber der Reihe nach.

Queeres Leben auf dem Land - ein Versteckspiel

Wir alle waren in den Augen derer, unter denen wir aufgewachsen sind, immer ein bisschen ver-rückt von der vermeintlichen Normalität. Für Carla und David kam der Sonntag wegen des Schabbats immer schon am Samstag. Für die Nachbarn auf dem Dorf war das? Genau. Irgendwie verrückt. Andere Juden auf dem Dorf zu finden? Schwierig.

Und wo wir schon bei verrückt und schwierig sind. Jung und schwul auf dem Land zu sein? Nicht viel einfacher. Wer macht zwischen Doppelhaushälfte, Familie Mustermann und dem Schützenverein schon öffentlich, dass er anders ist? Und so war das Leben für einige von uns vor allem ein Versteckspiel. Wenn wir uns mit unseren ersten Freunden trafen, zählte vor allem eines: dass uns niemand entdeckte und somit herausfand, wer wir wirklich waren. Ein Coming-out? Im Zweifelsfall nicht nur ein Dorfgespräch, sondern der Zusammenbruch ganzer Familienbande.

Ein schwuler Bürgermeister - und das war auch gut so

Am Ende waren wir es also, die nach Berlin kamen, weil wir hofften, hier Gleichgesinnte zu finden und leben zu können, wie wir sind. "Ich bin schwul und das ist auch gut so", hat Klaus Wowereit in seinem ersten Wahlkampf 2001 gerufen. Am Ende hat er hier in Berlin damit die Wahl gewonnen und ist von einer Mehrheit der Wahlberechtigten zum Regierenden Bürgermeister gewählt worden.

Was für ein Versprechen! Und genau das hat Berlin in seiner Geschichte immer wieder gegeben. In den 1920ern haben sich in Eldorado "Transvestiten" getroffen, gefeiert und auch die angezogen, die mal neugierig einen Abstecher in ein anderes, buntes Berlin machen wollten. Später suchten in West-Berlin diejenigen Anschluss, für die ein piefiges Nachkriegsdeutschland im Westen keinen Platz hatte. Und auch jüdisches Leben kam zurück. An jenem Ort, wo der Massenmord an ihnen besiegelt worden war, fanden Juden und Jüdinnen wieder ein Zuhause.

In den 2000ern kamen schließlich wir: Carla, David, Alex, Dominik und Simon und ich. Mitte 20, auf der Suche nach der Freiheit, Gemeinschaft und in der Hoffnung, gleich unter Gleichen zu sein: Sei es als Jude, Ausländer oder als Schwuler.

Queeres Leben in Berlin wird wieder zum Versteckspiel

An diesem Abend vor zwei Wochen nun aber standen wir in der Küche, sprachen über unsere Geschichte und stellten fest: Wir sind in Sorge und wir sind enttäuscht. Berlin, die Stadt, die uns immer versprochen hat, sein zu können, wie wir sind. Diese Stadt hält ihr Versprechen nicht mehr ein.

Hunderte Angriffe auf queere Menschen sind im letzten Jahr gemeldet worden. Rekordniveau. "Auf der Straße in Berlin laufen LGBTIQ-Personen immer wieder Gefahr, angefeindet, beschimpft und angegriffen zu werden, allein schon, wenn sie sich zu erkennen geben."

Die Nachrichten dazu sind inzwischen so alltäglich, dass sie oft einfach untergehen. Für unser Leben haben sie aber alltägliche Auswirkungen. Meinem Freund einen Kuss zum Abschied geben? Das haben wir zum Schluss nur noch mit Blicken gemacht - unauffällig eben. Wie vor einem Coming-Out auf dem Dorf. Wo wir uns in Berlin früher unbeschwert Hand in Hand in der Bahn bewegt haben, haben wir im letzten Jahr zuerst die Umgebung gescannt: Wer kommt uns da entgegen? Würden uns die anderen Leute hier in der Bahn helfen, wenn wir angegriffen würden? Auch einen queeren Club verlassen wir heute nicht mehr selbstverständlich allein. Weiß ja keiner, wer hinter der nächsten Ecke wartet.

Halsketten in der Hosentasche

Carla trägt ihren Davidstern nicht mehr um den Hals. Sie hat Angst, als Jüdin erkannt zu werden. Als sie einem Freund beistehen wollte, der auf offener Straße als Schwuchtel angeschrien wurde, hat sie als erstes in der Hosentasche ihre Faust geballt und darin die Kette versteckt. Dafür hatte sie gute Gründe: Im November werden Zahlen zu antisemitischen Übergriffen veröffentlicht: Rekordniveau. Jüdinnen und Juden laufen Gefahr, angefeindet, beschimpft und angegriffen zu werden, wenn sie sich zu erkennen geben. Das Kind abends alleine nach Hause kommen lassen? Besser nicht, erzählt Carla.

Frei und unbeschwert in Berlin zu leben: Das ist wahrlich keine Selbstverständlichkeit mehr im Jahr 2023.

Wie viel Raum gibt die Mehrheit einer Minderheit?

In etlichen Diskussionen, vor allem in den Sozialen Medien, heißt es gern mal, das sei alles gekommen, weil in Berlin der Anteil der Migranten besonders hoch und die antisemitischen und homophoben Einstellungen direkt mit importiert worden seien. Das ist natürlich Quatsch.

Auch antimuslimische Einstellungen sind weit verbreitet, wie der Berlin-Monitor gerade wieder gezeigt hat. Viel wichtiger als die Frage, woher es kommt, ist eine andere Frage: Wie geht die Mehrheit mit diesen Einstellungen um? Wie viel Raum geben die Vielen den Wenigen in einer Stadt, die sich durch ihre Offenheit bekannt, beliebt und verdient gemacht hat?

Hape Kerkeling ist dann mal weg - Was machen wir?

Hape Kerkeling hat sich in diesem Jahr entschieden, Berlin zu verlassen und mit seinem Mann nach Köln zu ziehen. Die Stimmung in Berlin sei ihm zu radikal und zu feindlich geworden.

Wir haben an diesem Abend vor 14 Tagen beschlossen, es Berlin nicht so leicht zu machen. Schließlich standen wir ja zusammen in der Küche und stellten fest Ja, wir haben uns gefunden. Hier können wir so sein, wie wir sind! Das ist schon besser als nichts - wenn auch weit weniger als das, wofür Berlin berühmt geworden ist.

Verrückt im negativen Sinne war es 2023 oft genug

Also Berlin, wenn Du als Gemeinschaft noch einen guten Vorsatz für das kommende Jahr suchst: Den Ruf der Stadt verteidigen und in den entscheidenden Momenten Zivilcourage zeigen, das wäre doch mal was. Wir, die da an diesem Abend zusammengestanden haben, würden uns freuen, wenn es auch außerhalb dieser Küche im positiven Sinne wieder etwas verrückter und freier zugehen könnte. Die Luft in der kleinen Küche mit so vielen Menschen wird auf Dauer stickig.

Also auf ein Neues, Berlin! Ein gutes neues Jahr.

Beitrag von Fabian Stratmann

25 Kommentare

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  1. 25.

    Ein gemeinsamer Neujahresvorsatz könnte sein, aus der failed City Berlin eine funktionierende Stadt zu machen. Aber dazu bräuchte es andere Bewohner, die eine andere Politik wählen. Also bleibts bei der failed City.

  2. 24.

    "Wer über Böller schimpft.Holzkohle ist erst recht verboten."
    Der Vergleich passt nicht - schon mal versucht mit Böller zu grillen? Frohes Neues :-).

  3. 23.

    Den ruf der Stadt verteidigen?
    Berlin hat seinen guten Ruf eingebüßt, und das gibt es nicht zu verteidigen!
    An der Wiederherstellung des guten Rufs, das wärs

  4. 22.

    Diese Stadt war und wird auch nie eine Weltstadt ! Wahrscheinlich kommt der Begriff Fußabtreter der Wahrehit wesentlich näher !

  5. 21.

    Die Verhältnisse in Berlin können nicht besser werden! Bezahlbaren Wohnraum wird es nicht geben (Stadtstaat,wenig Fläche) ,gute Lebensqualität wird es nur für die geben, die es sich leisten können

  6. 20.

    Es dürfen alle in frieden Leben, wäre ein guter Vorsatz für die Gesellschaft.Nicht nur in Frieden, sondern so das jeder sein Leben leben kann.Wer über Böller schimpft.Holzkohle ist erst recht verboten.Mögen alle ihre guten Wünsche, Träume und Vorsätze in Erfüllung gehen.Gesundes neues Jahr.

  7. 19.

    Wer nimmt denn auf die Rücksicht, die von dem ganzen uncoolen furchteinflößendem linksgrünen Geteue und Gemache genug haben ? Ist die Sehnsucht und der Wunsch nach Sauberkeit und geordneten Verhältnissen auch schon rechtsextremistsich ?

  8. 18.

    ... und der Artikel ist gut so.

  9. 17.

    Eine traurig machende Bilanz..
    Sicherlich liegt EIN Grund in dieser Entwicklung darin, dass so viele der Stadt ihr Chaos, ihre Unordnung, ihre Unbeschwertheit nicht mehr gönnen.
    Wo so viele nach Ordnung, nach Aufräumen, nach Sauberkeit, nach Ruhe rufen, da ist kein Platz mehr für das Besondere, das Ausufernde, die Fröhlichkeit oder das anregende Chaos.
    Die Spießigkeit übernimmt die Mehrheitsmeinung, dort wo früher eine wilde Lebenslust die Masse mitgerissen hatte.

    Und dann kommt ein furcheinflösender Rechtsruck und eine von Sorge und Angst genährte Intolerenz mit dazu - und fertig ist die uncoole Stadt. Last uns wieder frech, selbstbewusst und unangepasst sein. Und lasst und gemeinsam dafür einstehen und dies auch gegen Angriffe verteidigen.
    P.S: und trotzdem ist diese Stadt immer noch lebens- und liebenswert

  10. 16.

    Wir hatten die "undergroundigen" 80er (okay, nur im Westen), die wilden 90er und die dan die Nuller Jahre, in denen manches Mainstream zu werden schien, während anderes leise unterging (bestimmte Clubs z.B.). Und seitdem scheint es mit dem liberalen, weltoffenen Berlin bergab zu gehen. Dafür gibt es auch einen Grund: Zeitgleich hat sich die Stadt so verändert, dass viele sie sich nicht mehr leisten können, gefühlt nicht mehr dazu gehören, an den Rand gedrängt werden.
    Als Reaktion auf ökonomische Ausgrenzung selbst andere auszugrenzen ist zwar weder hilfreich noch politisch klug, aber so ist der Mensch.
    Und deswegen ist es auch leider so, dass die Verhältnisse in unserer Stadt erst besser werden, wenn es mit bezahlbarem Wohnraum, guten Lebensverhältnissen und Aussicht auf eine gute Zukunft für alle vorwärts geht.

  11. 15.

    Nachtrag: Allen ein frohes, ruhiges, friedliches Silvester 2024.

    Berlin braucht Ruhe und Frieden.

  12. 14.

    Bitte keine neuen Vorsätze. Hab noch unangetastete von 2023.

  13. 13.

    Steht auf erhebt Euch wenn Ihr Antisemitismus oder Ungerechtigkeit erfahrt.
    Steht denen bei an Ihrer Seite.
    Nein mein Berlin ist tolerant,weltoffen und deshalb jeder der solches Unrecht widerfährt dem gehört unser Beistand.

  14. 12.

    Vielen Dank für diese berührenden und persönlichen Worte!

  15. 10.

    Berlin hatte unzählige Chancen eine liebenswerte und lebenswerte Stadt auch heute zu sein. Alles verspielt. Eine Stadt wo Menschen aus 170 verschiedenen Nationen leben. Was für ein potenzial. Ist es so, dass die Vielen den Wenigen zu viel Raum gegeben haben für Rassismus, Homophobie und Antisemitismus? Vielleicht gibt es ja von den Wenigen mehr als wir uns vorstellen wollen. Eine Willkommens- und Anerkennungskultur, wirklich offen, respektvoll und mutig gemeinsam gestalten, davon sind wir weit entfernt. In einer Stadt wo sich Menschen wegen ihrer Herkunft, Religion und vieles mehr wieder verstecken müssen,Nein, dass hätte niemals passieren dürfen. Wie Hape Kerkeling, dann bin ich mal weg. Bleibt alle gesund und kommt gut ins neue Jahr.

  16. 9.

    Ganz wichtig, das habe ich noch vergessen: ich wünsche allen Menschen auf der Welt ein friedlicheres Jahr 2024!

  17. 8.

    Berlin ist bunt, offen, ehrlich, herzlich, tolerant, was soll ich sagen, Berlin eben, eigentlich. Ich liebe Berlin und wünsche mir von ganzem Herzen, dass es 2024 wieder alle diese Seiten zeigt, ohne wenn und aber. Allen Berlinerinnen, Berlinern und Nichtberlinern wünsche ich ein wunderschönes, besseres und fröhlicheres Jahr 2024, als es 2023 war.

  18. 7.

    Leute, schaut Euch nur Dieter Nuhr Jahresrückblick 2023 an,dann wisst Ihr alles,was schief gelaufen ist.

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