Jahresbericht Antiziganismus Berlin - "Als Roma wahrgenommene Kinder erleben fast täglich rassistische Diskriminierung"

Seit 2014 erfasst in Berlin eine Dokumentationsstelle antiziganistisch motivierte Vorfälle. In ihrem aktuellen Bericht äußert sie sich wenig optimistisch: Danach ist Diskriminierung von Sinti und Roma nach wie vor ein massives Problem. Von Annette Kufner
Die Diskriminierung von Sinti und Roma bewegt sich weiterhin auf hohem Niveau - das ist die Bilanz der Berliner Dokumentationsstelle Antiziganimsus (Dosta). 247 Fälle wurden Dosta im vergangenen Jahr gemeldet, das seien ähnlich viele wie im vergangenen Jahr, heißt es in dem Bericht, den die Stelle am Dienstag vorlegte.
Zwei exemplarische Fälle, die bei Dosta gemeldet wurden: Ein Mädchen wird von einem Mitschüler geschlagen. Die Reaktion des Jugendamts: ein bisschen Gewalt kenne das Mädchen sicher aus ihrer Familie. Ein Vater meldet seine Tochter in der Schule krank. Er wird zum Gespräch geladen und ein Lehrer fordert ihn auf, seinen Pass und seine Aufenthaltspapiere vorzulegen.
"Strukturelle Ausschlüsse aus dem System"
Die meisten Fälle (49) wurden laut Dosta im Zusammenhang mit Behördengängen gemeldet. "Da geht es um strukturelle Ausschlüsse aus dem System", sagt Dosta-Projektleiterin Violeta Balog. "Es werden die Anträge abgelehnt, es kommt zu verlängerten Bearbeitungszeiten oder es werden irrelevante Unterlagen angefordert."
Mitglieder der Minderheit – oder Menschen, die für solche gehalten werden – würden pauschal verdächtigt, staatliche Leistungen erschleichen zu wollen, sagt Balog. Im schlimmsten Fall verursache das existenzbedrohende Situationen. Etwa wenn staatliche Leistungen entzogen würden, auf die Betroffene gesetzlichen Anspruch haben.
Laut einer Fallmeldung wurde ein Leistungsempfänger im vergangegen Jahr sogar vom Jobcenter angezeigt. Der Vorwurf: Betrug und Urkundenfälschung. Später stellte sich heraus, dass nicht er, sondern sein Arbeitgeber einen Fehler gemacht hatte.
Diese Art kriminalisierender Unterstellungen erleben Sinti und Roma laut Dosta häufig. "Wir kennen diese Muster sehr gut, weil wir sie schon seit Jahren beobachten", so Violeta Balog.
Die Schule: Kein sicherer Ort
47 Fallmeldungen im Dosta-Bericht stehen in Verbindung mit dem Berliner Bildungssektor. "Kinder, die als Rom*nja wahrgenommen werden, erleben fast täglich rassistische Diskriminierung", betont Balog, "zum einen durch MitschülerInnen, zum anderen - und größtenteils - durch Lehrpersonal. Gerade im letzten Jahr hatten wir vermehrt Fallmeldungen, wo die Diskriminierung vom Lehrpersonal ausging."
Beispiele seien unberechtigte Ausschlüsse und rassistische Beleidigungen. So verwendeten selbst Lehrkräfte das Wort "Zigeuner" – eine rassistische Fremdbezeichnung, unter der während des Nationalsozialismus hunderttausende Sinti und Roma verfolgt und ermordet wurden.
Überraschend sei das nicht, betont Balog. Innerhalb der Mehrheitsgesellschaft werde das Wort immer wieder normalisiert, Beschwerden Betroffener als übertrieben abgetan.
Hohe Dunkelziffer
Das schwäche auch das Bewusstsein Betroffener, sich gegen Diskriminierung wehren zu können, so die Dokumentationsstelle Antiziganismus. Man gehe bei den Berliner Zahlen von einer hohen Dunkelziffer aus.
Im Bereich Schule fordere man seit Jahren unabhängige Beschwerdestellen, sagt Violeta Balog. Kinder und Eltern müsse ermöglicht werden, sich zu wehren, "ohne Angst haben zu müssen, dass ihre Kinder die Schule wechseln müssen, weil es nach der Beschwerde noch schlimmer wird."
Die Sozialforscherin Isidora Randjelović, Leiterin des Vereins RomaniPhen, fordert indes mehr Unterstützung für Menschen, die juristisch gegen Diskriminierung vorgehen wollen. Viele Betroffene fürchteten sich vor den finanziellen Risiken. Eine Lösung sieht die Sozialforscherin in Verbandsklagen. Bislang gebe es aber noch keine Organisation, die die Bedingungen erfülle, um im Namen Betroffener zu klagen.
Kinder erleben, was schon ihre Eltern und Großeltern erlebt haben
Randjelović fordert außerdem, dass Antiziganismus insbesondere im Bildungsbereich eingedämmt wird: "Diese Kinder erleben diese Diskriminierung in der Schule, die vielleicht ihre Eltern schon erlebt haben und auch schon ihre Großeltern, die möglicherweise aber schon aus der Schule herausgenommen wurden, während des Nationalsozialismus." Das Gefühl, nicht dazuzugehören, werde so immer wieder bestätigt.
Diese generationsübergreifenden Zusammenhänge würden in Deutschland nicht ausreichend erfasst, so die Sozialforscherin.
Das zeige sich auch in der Debatte um die geplante S-Bahn-Trasse unter dem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin. Das Denkmal sei für viele der einzige Ort, an dem sie der Opfer aus ihren eigenen Familien gedenken können: "Dass gerade die Deutsche Bahn – als Nachfolgegesellschaft der Reichsbahn – dort einen Bauauftrag bekommt, das ist sehr bitter."
Sendung: rbb24 Inforadio, 15.04.2025, 8 Uhr