Antiziganismus in Berlin - Sinti und Roma eint die Erfahrung, diskriminiert zu werden
Einige wohnen schon immer in Berlin, andere sind Zugewanderte: Sinti und Roma sind eine diverse Community, weshalb sich auch die Bedürfnislagen unterscheiden. Der Senat versucht, Lösungen dafür zu finden. Von Anna Bordel
- Rassismus-Fälle gegen Sinti und Roma nehmen zu
- Senat gibt 720.000 Euro für Projekte aus, die Teilhabe und Antidiskriminierung fördern
- Community ist divers und hat somit unterschiedliche Bedürfnisse
Die Hälfte der Einwohner des rumänischen Dorfes Fantanele wanderte 2010 aus, viele von ihnen nach Berlin. Roma-Familien auf der Suche nach einem besseren Leben, Arbeit, Bildungs-Chancen für ihre Kinder.
Eines dieser Kinder war Estera Stan, damals sechs Jahre alt. Ihr Vater war zuvor zum Arbeiten nach Berlin gegangen und hat entschieden, seine Familie nachzuholen. Estera und ihre sieben Geschwister sollten bessere Chancen auf Bildung haben und irgendwann mal mehr Geld verdienen, als er es konnte, so erzählt Stan es 13 Jahre später.
Vor einigen Wochen hat sie ihr Abitur absolviert. Mit der letzten Prüfung, der mündlichen in Philosophie, sei sie nicht ganz zufrieden, sagt sie, habe etwas viel gestammelt. Vergessen, woher sie kommt, hat sie nicht. Das liegt zum einen daran, dass sie es nicht möchte: Sie lebt mit ihrer Familie mit weiteren Roma-Familien in einem Haus in Neukölln, einige kommen aus demselben Dorf wie sie, eine ihrer Schwestern lebt wieder in Rumänien. Mit ihrer Familie spricht sie die Sprache der Sinti und Roma: Romanes.
Zum anderen liegt es daran, dass ihr Umfeld sie nicht vergessen lässt, dass sie eine Roma ist.
Immer mehr Rassismusfälle gegen Sinti und Roma gemeldet
Das "Z-Wort", wie sie es nennt, sei in der Schule immer wieder gefallen, sagt Stan. Ihre Lehrer:innen seien nicht sensibilisiert für das Thema, hätten sie nicht geschützt, wenn etwas vorgefallen sei. Also hat sie selbst damit angefangen, sich und anderen Betroffenen zu helfen.
Mittlerweile ist Stan aktiv bei den Organisationen "Romatrial", die sich mit kultureller Bildungsarbeit beschäftigt, und "Romaniphen", einer feministischen Vereinigung. Sie sorgt mit Workshops dafür, dass Antiziganismus an Schulen mehr an die Oberfläche gelangt, dass Schüler:innen und Lehrer:innen wissen, was sich dahinter verbirgt, und so besser erkennen können, wenn etwas passiert.
Fälle von Antiziganismus – also von Rassismus gegen Menschen, die der Sinti- und Roma-Community angehören oder als solche gelesen werden – nehmen den Statistiken zufolge in Berlin zu. Die Polizei Berlin registrierte 2022 nach eigenen Angaben zufolge 26 strafrechtlich relevante Vorfälle. Vor fünf Jahren waren es noch 15 gewesen.
Darunter fallen unter anderem Gewalt, Beleidigung und Sachbeschädigung gegen Sinti und Roma. Die Dokumentationsstelle antiziganistischer Vorfälle (Dosta) registriert seit 2014 alle eingehenden Beschwerden. Im vergangenen Jahr wurden einem Dosta-Bericht zufolge 225 Fälle gemeldet, im Vorjahr 147 Fälle.
Minderheiten sind geschützt aber nicht gezählt
Die meisten dieser Vorfälle ereigneten sich demnach im Alltag im öffentlichen Raum. Das können beispielweise beleidigende Schmierereien an Hauswänden sein. Dosta beschreibt einen Fall, wie unter einem Schild mit einem Hinweis auf Bauarbeiten an einem kaputten Aufzug handschriftlich geschrieben steht: "Könnt ihr euch bitte beeilen", gefolgt von einer antiziganistischen Beleidigung. Diskriminierungen im Internet seien auch immer häufiger dabei, so Dosta-Mitarbeiter Aron Korozs. Zwei Riesenbaustellen sind Korozs zufolge außerdem Antiziganismus an Schulen und in Behörden.
Wie viele Sinti und Roma in Deutschland leben, ist nicht erfasst - und das ganz bewusst. "Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges werden in der Bundesrepublik Deutschland generell keine bevölkerungsstatistischen und sozioökonomischen Daten auf ethnischer Basis erhoben", heißt es auf der Website des Bundesinnenminiseriums. Hintergrund sei die Verfolgung solcher Minderheiten während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
Während sich andere Minderheiten wie beispielsweise Sorben oder Dänen vor allem in bestimmten Regionen Deutschlands aufhielten, würden Sinti und Roma in ganz Deutschland leben. In Berlin spricht eine nicht gerade geringe Anzahl an Organisationen und Vereinen dafür, dass es eine rege Sinti- und Roma-Community gibt.
Zehn Jahre Aktionsplan zur Einbeziehung von Sinti und Roma
Der Senat gibt eigenen Angaben zufolge in diesem Jahr 720.000 Euro für Antiziganismus-Projekte aus, unter anderem von "Romatrial", "Romaniphen" und "Amaro Foro". Sie sind Teil des 2013 eingesetzten Aktionsplans zur Einbeziehung ausländischer Roma, das sich laut Stefan Strauß, Pressesprecher der Senatsverwaltung für Arbeit, Soziales, Gleichstellung, Integration, Vielfalt und Antidiskriminierung (Senasgiva) vor allem an Familien in prekären Verhältnissen richtet. Ihnen solle der Zugang zu Arbeit, Wohnung und Bildung durch diese Angebote erleichtert werden, so Strauß.
2020 wurde der Aktionsplan der Senatsverwaltung zufolge zuletzt evaluiert. Eine Krankenversicherung in Notfällen oder für Familien mit Kindern sowie eine Anlaufstelle für Opfer von Antiziganismus seien gefordert worden. Derzeit finde eine erneute Bewertung des Plans statt, deren Ergebnisse noch nicht bekannt seien. Ziele in naher Zukunft sind Dimensionen wie "Partizipation, Antidiskriminierung und Verbesserung der soziale Teilhabe" zu integrieren, so Strauß.
Gemeinsame Sprache als Bindemittel der Communtiy
Sinti und Roma sind Völker, die einerseits seit Jahrhunderten in deutschem Raum leben, andererseits aus meist osteuropäischen Ländern nach Deutschland einwandern. Etwa eine halbe Millionen von ihnen wurde während des Zweiten Weltkrieges von Nationsozialisten umgebracht, was die Bundesrepublik Deutschland erst 1982 als Völkermord anerkannt hat. Sinti und Roma ist eine weit gefasste Bezeichnung für all jene Menschen, die Romanes sprechen. Was verbindet sie außer der Sprache?
Sie vereine die Erfahrung, Diskriminierung zu erleben, sagt ein Mitarbeiter von "Amaro Foro". Die gemeinsame Sprache sei eigentlich das einzige, was Sinti und Roma miteinander verbinde, sagt Estera Stan. Und auch Dotschy Reinhardt, Vorsitzende des Landrates deutscher Sinti und Roma Berlin-Brandenburg, sieht das so. Romanes ist eine Sprache mit so vielen Varianten, wie es Regionen gibt, in denen sie gesprochen wird.
Staatsvertrag für Sinti und Roma?
Das Romanes der deutschen Sinti habe beispielweise viele Einflüsse aus dem Deutschen, da viele schon seit Jahrhunderten hier lebten, so Reinhardt. Der Landesrat vertrete vor allem ihre Rechte, also die Rechte jener Sinti und Roma, die schon lange in Deutschland leben, integriert sind, aber trotzdem noch rassistisch diskriminiert werden – bei der Arbeit, der Wohnungssuche oder in der Schule beispielweise. Die ihre Sprache nur hinter verschlossenen Türen sprechen. Die sich häufig nicht trauen, offen zu ihrer Identität zu stehen.
Alteingesessene Sinti und Roma sind nach dem deutschen Minderheitengesetz neben Friesen, Dänen und Sorben geschützt. Das sei natürlich ein guter Anfang, so Reinhardt. Noch hilfreicher wäre allerdings ein sogenannter Staatsvertrag, wie ihn beispielweise die Sorben haben.
Sie will weg von der Minderheitenpolitik. Sie möchte dahin kommen, dass es selbstverständlich wird, dass die Rechte, die Sinti und Roma auf dem Papier schon haben auch gelten. Ein Staatsvertrag würde das in der Verfassung des Landes Berlin verankern.
Allerdings würde die kürzliche Neubildung der Regierung bedeuten, dass die Gespräche zwischen Landesrat und Politik neu geführt werden müssten - "und die haben nicht oberste Priorität", sagt Reinhardt.
Willkommensklassen überfüllt
Für erst in jüngerer Vergangenheit zugewanderte Sinti und Roma ist das verankerte Recht in einem Staatsvertrag erstmal nicht das, was sie als erstes benötigen. Wohnung, Arbeit, Schulplätze sind da zentraler. Dass das nicht ohne Weiteres geht, auch wenn die Menschen aus einem EU-Land einreisen, zeigt ein Beispiel von Roma, die zunächst ein provisorisches Zeltcamp in der Nähe des Hauptbahnhofes bewohnten. Der Bezirk Mitte fand schließlich eine temporäre feste Unterkunft in einer alten Schule für sie, mit einer eigenen Wohnung hat das aber noch nichts zu tun. Unter ihnen sind einige Kinder im schulpflichtigen Alter. Für sie einen Platz zu finden, wird nicht leicht. In Berlin sind die Wartelisten für Willkommensklassen lang.
Estera Stan bekam vor 13 Jahren ihre Chance und nutzt sie seitdem jeden Tag. Nach dem Abitur möchte sie jetzt erst einmal reisen und dann studieren – Schauspiel oder Lehramt.