Interview | Ukrainischer Botschafter zu Weltkriegsgedenken - "Kein Volk hat das Recht, die Geschichte für sich allein zu beanspruchen"
Das Auswärtige Amt warnt vor einer Instrumentalisierung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg. Der ukrainische Botschafter Makeiev wirft Russland vor, Geschichte für Propaganda zu missbrauchen und fordert mehr Distanz zu sowjetischen Erzählungen.
In Seelow wird in dieser Woche der Schlacht um die Seelower Höhen gedacht. In den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges kämpften dort fast eine Millionen Rotarmisten aus vielen Teilen der ehemaligen Sowjetunion gegen rund 130.000 deutsche Verteidiger. Zehntausende Menschen starben.
Zu Kontroversen vor dem 80. Jahrestag führt in diesem Zusammenhang aktuell eine Handlungsempfehlung des Auswärtigen Amtes. Explizit eingeladen wurden russische Vertreter vom Landkreis Märkisch-Oderland zwar nicht. Begrüßen wolle man den russischen Botschafter, sollte er denn kommen, an der Gedenkstätte aber dennoch. Über den Umgang mit den einstigen Siegern und heutigen Aggressoren hat rbb24 mit Oleksii Makeiev, dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, gesprochen.
rbb|24: Das Auswärtige Amt hat in einer Handreichung empfohlen, weder an russisch-belarussischen Gedenkveranstaltungen teilzunehmen, noch diplomatische Vertreter dieser Länder zu eigenen Veranstaltungen einzuladen. Dort wird eine Instrumentalisierung der Geschichte auch vor dem Hintergrund des Angriffs auf die Ukraine gefürchtet. Wie schätzen Sie das Vorgehen ein?
Oleksii Makeiev: Eine Handreichung ist mir nicht bekannt. Man braucht nur einen klaren moralischen Kompass und gesunden Menschenverstand, um zu entscheiden, ob man Vertreter von Verbrecher-Regimen einlädt oder nicht. Russland hat mit Unterstützung von Belarus den Krieg nach Europa zurückgebracht. Zum ersten Mal seit 1945 in Europa versucht, Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Die Weltordnung, die als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, wird von Russland und Belarus angegriffen. Wo wir Europäer sagen: Nie wieder! Dort sagen die Russen: Wir können das wiederholen. Und sie sagen es zum Jahrestag der Befreiung Europas von den Nazis besonders oft.
Also haben Sie Verständnis für die Handlungsempfehlung des Auswärtigen Amtes?
Das finde ich berechtigt. Denn wenn man offizielle Vertreter eines Staates einlädt, sagt man damit, dass man diesen Staat für ganz normal hält. Aber so ein Staat, der seit mehr als elf Jahren einen völkermörderischen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland führt, ist alles andere als normal. Seit Februar 2022 hat Russland mehr als 163.000 Kriegsverbrechen begangen. Das wird jetzt von unserer Generalsstaatsanwaltschaft untersucht. Das ist alles andere als normal. Ein Staat, der Kinder deportiert, ist auch alles andere als normal. Deswegen ist diese Entscheidung berechtigt.
Befürchten Sie denn, dass Russland die Geschichte instrumentalisiert?
Wir fürchten die Russen schon lange nicht mehr, weil Angst ein schlechter Ratgeber ist. Aber wir wissen sehr wohl, dass Russland die Geschichte seit langem instrumentalisiert. Wir stellen uns dem mutig entgegen. Russland repräsentiert sich als einziges Opfer und als einzigen Sieger über den Nationalsozialismus. Mit dieser Doppel-Lüge hat Russland Deutschland jahrzehntelang manipuliert. Ein Vertreter des russischen Regimes aus der Residenz aus der Botschaft Unter den Linden sprach jetzt wieder einmal von 27 Millionen Opfern seines Volkes. Das ist eine Lüge und eine postume Besetzung von über acht Millionen ukrainischen Opfern. Kein Volk hat das Recht, die Geschichte für sich allein zu beanspruchen.
Ist die Erinnerung in Deutschland zu undifferenziert?
Das ist auch die einfache Instrumentalisierung der Erinnerungspolitik durch Russland. Die Gründe dafür sind möglicherweise, dass in der ehemaligen DDR eine sowjetische Interpretation verbreitet war. Wir müssen auch daran erinnern, dass über acht Millionen Ukrainer Opfer des Nationalsozialismus waren. Wir erinnern auch an Babyn Jar, wo über 30.000 Juden innerhalb von zwei Tagen erschossen wurden und das gesamte Gebiet der Ukraine vollständig von Nazis besetzt wurde. Dazu zieht man sofort Parallelen mit der heutigen russischen Besetzung der ukrainischen Gebiete. Ungefähr 20 Prozent der Ukraine sind heute - 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - besetzt. Aber diesmal von Russen.
Deutschland ist für zahlreiche Verbrechen im Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verantwortlich - sowohl gegen Russen, Ukrainer und andere Volksgruppen. Wie kann man angesichts des aktuellen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine der Vergangenheit gedenken?
Vorsichtig und feinfühlig, am besten akademisch. Wenn ich akademisch sage, empfehle ich die Vorschläge der deutsch-ukrainischen Historikerkommission auch dazu, wie die Erinnerungskultur in Deutschland und die Frage der deutschen Verantwortung gegenüber der Ukraine vorsichtig und feinfühlig angegangen werden muss.
Zu Veranstaltungen in der Gedenkstätte Seelow muss ich sagen, dass sich auch dort viele der sowjetisch-russischen Lügen finden. Zum Beispiel Kriegsjahre auf den Tafeln. Dort steht '1941 bis 1945'. So etwas findet man auch oft in Berlin. Das ist eine Lüge, die die ersten beiden Kriegsjahre verschweigt - die Jahre, in denen die Sowjetunion Komplize des Dritten Reiches war. Die sowjetisch-russische imperiale Geschichtslehre verschweigt bewusst den Hitler-Stalin-Pakt, der die Aufteilung Osteuropas bedeutet. Erst haben die Nazis am 1. September Polen überfallen, und am 17. September folgten sowjetische Truppen von Osten aus. Am 22. September gab es eine deutsch-sowjetische Militärparade in Brest-Litowsk.
Neben diesen Tafeln in Deutschland sollte deshalb eine zweite auftauchen, wo man auf die Lügen hinweist und die Propaganda erklärt.
Besuchen Sie zu den Jahrestagen denn Gedenkstätten?
Sowjetische Gedenkstätten besuchen wir grundsätzlich nicht. Aber natürlich erinnern wir an die Opfer. Jedes Jahr am 8. Mai lege ich an der Neuen Wache in Berlin Blumen zum Gedenken an die Ukrainerinnen und Ukrainer nieder, die während des Zweiten Weltkriegs Opfer von Nazi-Deutschland wurden. Aber auch zum Beitrag meiner Landsleute über den Nationalsozialismus.
Es geht uns um Erinnerungskultur und nicht um die sowjetischen Denkmäler, die eigentlich kein einziges Wort darüber sagen, dass es Vertreter von vielen Nationen in der sowjetischen Armee waren. Die ganze russisch-imperiale Geschichtslehre basiert darauf, dass es angeblich nur Russen waren, die ganz Europa befreit haben. Deswegen sind diese imperialen Denkmäler für mich persönlich und die ukrainische Gemeinde nicht die Worte oder Form einer Erinnerung. In Berlin gibt es keinen Ort, der den ukrainischen Opfern gewidmet ist. Wir möchten aber sehr gerne, dass die Erinnerungskultur in Deutschland auch das Thema der deutschen Verantwortung und Verbrechen gegenüber der Ukraine aufgreift.
Vielen Dank für das Gespräch!
Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Fassung. Das Interview führten Robert Schwaß und Tony Schönberg für Antenne Brandenburg.
Sendung: Antenne Brandenburg, 15.04.2025, 16:40 Uhr
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