Interview | Ukrainischer Botschafter zu Weltkriegsgedenken - "Kein Volk hat das Recht, die Geschichte für sich allein zu beanspruchen"

Di 15.04.25 | 14:22 Uhr
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Kranzschleifen im Museum der Gedenkstätte Seelower Höhen
IMAGO / Hohlfeld
Audio: Antenne Brandenburg | 15.05.2024 | Robert Schwaß | Bild: IMAGO / Hohlfeld

Das Auswärtige Amt warnt vor einer Instrumentalisierung des Gedenkens an den Zweiten Weltkrieg. Der ukrainische Botschafter Makeiev wirft Russland vor, Geschichte für Propaganda zu missbrauchen und fordert mehr Distanz zu sowjetischen Erzählungen.

In Seelow wird in dieser Woche der Schlacht um die Seelower Höhen gedacht. In den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges kämpften dort fast eine Millionen Rotarmisten aus vielen Teilen der ehemaligen Sowjetunion gegen rund 130.000 deutsche Verteidiger. Zehntausende Menschen starben.

Zu Kontroversen vor dem 80. Jahrestag führt in diesem Zusammenhang aktuell eine Handlungsempfehlung des Auswärtigen Amtes. Explizit eingeladen wurden russische Vertreter vom Landkreis Märkisch-Oderland zwar nicht. Begrüßen wolle man den russischen Botschafter, sollte er denn kommen, an der Gedenkstätte aber dennoch. Über den Umgang mit den einstigen Siegern und heutigen Aggressoren hat rbb24 mit Oleksii Makeiev, dem ukrainischen Botschafter in Deutschland, gesprochen.

rbb|24: Das Auswärtige Amt hat in einer Handreichung empfohlen, weder an russisch-belarussischen Gedenkveranstaltungen teilzunehmen, noch diplomatische Vertreter dieser Länder zu eigenen Veranstaltungen einzuladen. Dort wird eine Instrumentalisierung der Geschichte auch vor dem Hintergrund des Angriffs auf die Ukraine gefürchtet. Wie schätzen Sie das Vorgehen ein?

Oleksii Makeiev: Eine Handreichung ist mir nicht bekannt. Man braucht nur einen klaren moralischen Kompass und gesunden Menschenverstand, um zu entscheiden, ob man Vertreter von Verbrecher-Regimen einlädt oder nicht. Russland hat mit Unterstützung von Belarus den Krieg nach Europa zurückgebracht. Zum ersten Mal seit 1945 in Europa versucht, Grenzen mit Gewalt zu verschieben. Die Weltordnung, die als Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist, wird von Russland und Belarus angegriffen. Wo wir Europäer sagen: Nie wieder! Dort sagen die Russen: Wir können das wiederholen. Und sie sagen es zum Jahrestag der Befreiung Europas von den Nazis besonders oft.

Also haben Sie Verständnis für die Handlungsempfehlung des Auswärtigen Amtes?

Das finde ich berechtigt. Denn wenn man offizielle Vertreter eines Staates einlädt, sagt man damit, dass man diesen Staat für ganz normal hält. Aber so ein Staat, der seit mehr als elf Jahren einen völkermörderischen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland führt, ist alles andere als normal. Seit Februar 2022 hat Russland mehr als 163.000 Kriegsverbrechen begangen. Das wird jetzt von unserer Generalsstaatsanwaltschaft untersucht. Das ist alles andere als normal. Ein Staat, der Kinder deportiert, ist auch alles andere als normal. Deswegen ist diese Entscheidung berechtigt.

Befürchten Sie denn, dass Russland die Geschichte instrumentalisiert?

Wir fürchten die Russen schon lange nicht mehr, weil Angst ein schlechter Ratgeber ist. Aber wir wissen sehr wohl, dass Russland die Geschichte seit langem instrumentalisiert. Wir stellen uns dem mutig entgegen. Russland repräsentiert sich als einziges Opfer und als einzigen Sieger über den Nationalsozialismus. Mit dieser Doppel-Lüge hat Russland Deutschland jahrzehntelang manipuliert. Ein Vertreter des russischen Regimes aus der Residenz aus der Botschaft Unter den Linden sprach jetzt wieder einmal von 27 Millionen Opfern seines Volkes. Das ist eine Lüge und eine postume Besetzung von über acht Millionen ukrainischen Opfern. Kein Volk hat das Recht, die Geschichte für sich allein zu beanspruchen.

Ist die Erinnerung in Deutschland zu undifferenziert?

Das ist auch die einfache Instrumentalisierung der Erinnerungspolitik durch Russland. Die Gründe dafür sind möglicherweise, dass in der ehemaligen DDR eine sowjetische Interpretation verbreitet war. Wir müssen auch daran erinnern, dass über acht Millionen Ukrainer Opfer des Nationalsozialismus waren. Wir erinnern auch an Babyn Jar, wo über 30.000 Juden innerhalb von zwei Tagen erschossen wurden und das gesamte Gebiet der Ukraine vollständig von Nazis besetzt wurde. Dazu zieht man sofort Parallelen mit der heutigen russischen Besetzung der ukrainischen Gebiete. Ungefähr 20 Prozent der Ukraine sind heute - 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges - besetzt. Aber diesmal von Russen.

Zur Person

Oleksii Makeiev wurde am 25. November 1975 in Kyjiw geboren. Nach seinem Studium für Internationale Beziehungen ist er seit 1996 im Außenministerium der Ukraine tätig. Als politischer Direktor des Außenministeriums und Sonderbeauftragter war Makeiev eigenen Angaben zufolge mit der Abwehr russischer Aggressionen, von Bedrohungen im Informationsbereich und bei der Koordinierung von Sanktionen gegen Russland zuständig.

Im Oktober 2022 trat Makeiew den Posten als Botschafter der Ukraine in Deutschland an.

Deutschland ist für zahlreiche Verbrechen im Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion verantwortlich - sowohl gegen Russen, Ukrainer und andere Volksgruppen. Wie kann man angesichts des aktuellen russischen Angriffskrieges auf die Ukraine der Vergangenheit gedenken?

Vorsichtig und feinfühlig, am besten akademisch. Wenn ich akademisch sage, empfehle ich die Vorschläge der deutsch-ukrainischen Historikerkommission auch dazu, wie die Erinnerungskultur in Deutschland und die Frage der deutschen Verantwortung gegenüber der Ukraine vorsichtig und feinfühlig angegangen werden muss.

Zu Veranstaltungen in der Gedenkstätte Seelow muss ich sagen, dass sich auch dort viele der sowjetisch-russischen Lügen finden. Zum Beispiel Kriegsjahre auf den Tafeln. Dort steht '1941 bis 1945'. So etwas findet man auch oft in Berlin. Das ist eine Lüge, die die ersten beiden Kriegsjahre verschweigt - die Jahre, in denen die Sowjetunion Komplize des Dritten Reiches war. Die sowjetisch-russische imperiale Geschichtslehre verschweigt bewusst den Hitler-Stalin-Pakt, der die Aufteilung Osteuropas bedeutet. Erst haben die Nazis am 1. September Polen überfallen, und am 17. September folgten sowjetische Truppen von Osten aus. Am 22. September gab es eine deutsch-sowjetische Militärparade in Brest-Litowsk.

Neben diesen Tafeln in Deutschland sollte deshalb eine zweite auftauchen, wo man auf die Lügen hinweist und die Propaganda erklärt.

Besuchen Sie zu den Jahrestagen denn Gedenkstätten?

Sowjetische Gedenkstätten besuchen wir grundsätzlich nicht. Aber natürlich erinnern wir an die Opfer. Jedes Jahr am 8. Mai lege ich an der Neuen Wache in Berlin Blumen zum Gedenken an die Ukrainerinnen und Ukrainer nieder, die während des Zweiten Weltkriegs Opfer von Nazi-Deutschland wurden. Aber auch zum Beitrag meiner Landsleute über den Nationalsozialismus.

Es geht uns um Erinnerungskultur und nicht um die sowjetischen Denkmäler, die eigentlich kein einziges Wort darüber sagen, dass es Vertreter von vielen Nationen in der sowjetischen Armee waren. Die ganze russisch-imperiale Geschichtslehre basiert darauf, dass es angeblich nur Russen waren, die ganz Europa befreit haben. Deswegen sind diese imperialen Denkmäler für mich persönlich und die ukrainische Gemeinde nicht die Worte oder Form einer Erinnerung. In Berlin gibt es keinen Ort, der den ukrainischen Opfern gewidmet ist. Wir möchten aber sehr gerne, dass die Erinnerungskultur in Deutschland auch das Thema der deutschen Verantwortung und Verbrechen gegenüber der Ukraine aufgreift.

Vielen Dank für das Gespräch!

Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte und redigierte Fassung. Das Interview führten Robert Schwaß und Tony Schönberg für Antenne Brandenburg.

 

Sendung: Antenne Brandenburg, 15.04.2025, 16:40 Uhr

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35 Kommentare

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  1. 35.

    Na ja, wer sich ganz provokativ "Bandera" nennt, will nur eines: provozieren.

  2. 34.

    Kann Wladimir Putin wunderbar. 2005 gabs eine private Initiative, die zum 60. Jahrestag auf der Strasse St.Georgs-Bändchen verteilte. konnte man sich ans Auto heften, ect. Hat putin dann für sich vereinnahmt.

    Einige Jahre später gabs die private Initiative "Das unsterbliche Regiment". Angehörige liefen einen Trauermarsch zum Gedenken, mit den Bildern ihrer Angehörigen. Kurze zeit später hat Putin auch dies für sich vereinnahmt.

  3. 33.

    Da wird der Millionen Opfer die die Sowjetunion, und zur Union gehört selbstverständlich auch die Ukraine, zur Befreiung vom Faschismus erbracht hat, gedacht-und schon beginnt der ukrainische Botschafter ein neues Narrativ zu entwickeln. Böses Russland-gute Ukraine. Lachhaft, wäre es nicht so tragisch. Das die einen gut und die anderen böse sind, das glauben nur Kinder. So säht man auch Feindschaft und versucht nicht Möglichkeiten der Aussöhnung zu eröffnen.

  4. 32.

    Gegenfrage, warum ist heute eine Kaserne in Deutschland nach General Heusinger benannt, der an der Planung des Überfalls auf Polen und auf die Sowjetunion im OKH beteiligt war? Am Ende waren es 27 Mio. Tote in der Sowjetunion inkl. der Teilrepubliken ... auch das steht in direkter Verbindung zum Gedenken heute auf den Seelower Höhen, Stalin hatte damit nichts zu tun.

  5. 31.

    Guten Morgen, das hat sehr viel damit zu tun. Die Ukraine erinnert offiziell an Babyn Jar, wo über 30.000 Juden umgebracht wurden. Huldigen jedoch durch Denkmäler, Gedenktafeln, Straßenbenennungen, einem Preis und einen Feiertag Bandera und damit die Taten der OUN. Auf bpd.de finden Sie entsprechende Informationen zur OUN und Bandera.

  6. 29.

    Keine Meinungsfreiheit? Wer Witze über Breschnjew machte, wurde mit Sanktionen belegt.

  7. 28.

    Und das ist historisch falsch; die Sowjetunion nicht Russland. Und es kommt in ihrer Logik noch schlimmer. Denn Stalin war Georgier und sein Nachfolger Ukrainer. Gorbatschow war Russe.

  8. 27.

    Das sehe ich völlig anders, denn nach dieser Logik, also alles mit allem zu allen Zeiten verknüpfen, können wir die gesamte Außenpolitik gegenüber den Ländern mit der größten Abhängigkeit komplett einstellen.
    Hier geht’s um die Seelower Höhen 1945 und nicht um die Ukraine 2025, bei denen sehr viele Rotarmisten gefallen sind, auch und insbesondere Russen. Und natürlich darf auch ein russischer Botschafter den Opfern gedenken.

  9. 26.

    Thomas Erkner:
    "Antwort auf [Antares] vom 15.04.2025 um 17:47
    Das ist ja alles richtig, aber welche Propaganda soll denn der russische Botschafter auf dem Gedenktag der Schlacht um die Seelower Höhen verbreiten?"

    Russland verbreitet die Propaganda, dass es heute in der Ukraine dasselbe machen würde, wie damals im Krieg gegen Hitlerdeutschland (gegen "Nazis" kämpfen und Menschen von "Nazis" "befreien"), obwohl es eher das gleiche macht wie damals Hitler: fremde Länder überfallen und erobern und dabei viele Menschen ermorden, foltern etc.!

    Und mit der Einladung eines Botschafters dieser imperialistischen Diktatur unterstützt man diese Propaganda!

  10. 25.

    Bandera:
    "Wieso verliert man kein Wort darüber, dass die Ukraine heute Bandera und die OUN ehrt und der ehemalige ukrainische Botschafter Blumen an Banderas Grab ablegte? "

    Was hat das mit dem Thema hier zu tun?
    NICHTS!

  11. 24.

    Wieso verlieren Sie kein Wort darüber, dass in Russland heutzutage offiziell der internationale Massenmörder und Diktator Stalin geehrt wird?

  12. 23.

    East:
    "Antwort auf [toberg] vom 15.04.2025 um 15:43
    Wie haben die Russen uns Ostdeutsche unterdrückt? Was haben die Ihnen damals angetan?"

    Sind Sie wirklich so naiv und ahnungslos zur deutschen Geschichte?!?

    Antwort auf Ihre naive Frage: Z.B. 17. Juni 1953 und Installation der DDR-Diktatur sowie Verhinderung von Demokratie!

    East:
    "Wir hatten eine große Russenkaserne in der Stadt und haben diese Leute kaum wahrgenommen, weil nur die wenigsten ihre Kaserne verlassen durften."

    Ist das wirklich Alles, was Sie über die DDR, die SU bzw. UdSSR und den Stalinismus wissen?!?

  13. 22.

    Russland war Geschädigter durch Hitlers Angriffskrieg und am Ende war Russland mit Sieger. Aber eins war Russland nie: Befreier. Die Russen ersetzten in der Ostzone gewaltsam direkt die eine Diktatur durch die nächste. Freiheit gab es allenfalls für die, die zeitnah flohen.

  14. 20.

    Warum versuchen sich alle in der Vereinnahmung des Tages der Befreiung zu übertreffen? Hier geht es um die Ehrung von gefallenen Soldaten, die nun einmal in deutscher Erde ruhen. Das sind Friedhöfe und Ehrenmale, die jeder, der Kränze oder Blumen im stillen Gedenken niederlegt, betreten kann. Was soll der arrogante und deplatzierte Hinweis auf das „ Hausrecht“! Da scheint eine belehrende, besserwisserische Moralität einer bestimmten Spezies von Politikern die Oberhand anstelle des gesunden Menschenverstandes zu gewinnen.

  15. 19.

    Sue wollen es absichtlich nicht verstehen, daß ein Land, daß einen barbarischen Krieg führt, zu Propagandazwecken Vertreter schickt! Harmlos?

  16. 18.

    Wenn Blumen niedergelegt wurden, dann ist es eben so. Das ist Sache der Ukraine.
    Wenn russische Repräsentanten zu Ehren der gefallenen Soldaten der Sowjetunion am Gedenken auf den Seelower Höhen teilnehmen möchten, hat die Ukraine das zu tolerieren und wenn ihr das nicht passt, dann kann sie eigene Vertreter entsenden, die explizit der gefallenen Ukrainer gedenken.
    Möglicherweise stehen sich beide Parteien nach Kriegsende an der ukrainisch-russischen Grenze gegenüber, um der sinnlosen Toten des aktuellen Krieges zu gedenken.
    Das Gedenken ist immer eine Veranstaltung, die an Vergangenes erinnert, Blut, Sterben, Tod.
    Ihre Propagandavorwürfe haben hier nichts zu suchen. Es geht nicht um die Gegenwart oder Zukunft, sondern um die Vergangenheit. Aus der Vergangenheit kann man lernen oder eben nicht.
    Ich finde es gut, dass es ein stilles Gedenken sein wird und Propaganda jeder Art unerwünscht ist, weder für oder gegen das jetzige Russland noch für oder gegen die Ukraine.

  17. 17.

    Wie viele Bürger der damaligen UdSSR sind Opfer des zweiten Weltkrieges geworden?
    UdSSR umfasst nicht da heutige Russland!
    Und Nachhilfe in Geschichte, auch wenn hochkarätige Politiker es anders gelernt haben mögen, nach meinem vermutlich falschem Geschichtswissen, wurde die UdSSR von Deutschland überfallen und wohl nicht anders herum.

  18. 16.

    Das ist ja alles richtig, aber welche Propaganda soll denn der russische Botschafter auf dem Gedenktag der Schlacht um die Seelower Höhen verbreiten?
    Und wenn dieser Gedenktag widererwartend für die Invasion in die Ukraine zweckentfremdet würde, aber dann wäre Netschajew der erste wirklich dumme Diplomat, könnte man ihn immer noch des Ortes verweisen.

    Bei allem Unrecht sollte man nicht anfangen sich die Geschichte und Verbrechen des Dritten Reichs zurechtzubiegen, denn das tausendjährige Reich hätte ohne seine vielen Handlanger nichteinmal zwölf, insbesondere die letzten sechs, Jahre Bestand.