Europawahl 2024 - Der Abstand zwischen Brandenburg und Brüssel

Do 30.05.24 | 19:35 Uhr | Von Thomas Bittner
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Archivbild: Ein Mann wirft seinen Wahlschein in eine Wahlurne. (Quelle: dpa/Pleul)
Bild: dpa/Pleul

Brandenburg droht an Einfluss im EU-Parlament zu verlieren. Nur wenige Kandidaten haben sichere Listenplätze. Trotzdem kämpfen Brandenburger engagiert um den Einzug in Brüssel und Straßburg. Von Thomas Bittner

  • zuletzt saßen vier Brandenburger in Brüssel
  • CDU-Kandidat Ehler ist seit 20 Jahren im EU-Parlament
  • AfD-Kandidaten sorgten für Negativ-Schlagzeilen im Wahlkampf
  • Brandenburger Kandidierende von SPD, FDP und Linke müssen um Einzug ins Parlament bangen

Brandenburg in Brüssel zu finden, ist schwer. Während zum Beispiel Bayerns Landesvertretung in einem schlossartigen Anwesen mit Marstall und Villa residiert, und der Freistaat die Vertretung als Außenstelle der Münchner Staatskanzlei führt, leistet sich die Brandenburger Landesregierung nur ein paar kleine Büros in einer Brüsseler Geschäftsstraße, geführt vom Potsdamer Finanzministerium. "Wie eine Flipperkugel" wechselte in der Vergangenheit die Zuständigkeit für Europa, kritisiert der CDU-Politiker Christian Ehler. Mal war es das Justizministerium, mal das Wirtschaftsministerium, jetzt das Finanzressort.

Auch die märkische Präsenz im EU-Parlament ist überschaubar. Nur vier von 705 Mitgliedern des Europäischen Parlaments vertreten Brandenburg. Bereits seit 2004 sitzt CDU-Mann Ehler in der EVP-Fraktion, Helmut Scholz (Die Linke) ist seit 2009 in Brüssel und Straßburg. Die Gubenerin Ska Keller ist ebenfalls seit 15 Jahren für die Bündnis-Grünen Abgeordnete, ihr Fraktionskollege Sergey Lagodinsky kam 2019 ins Parlament.

Die Zahl der Brandenburger Interessenvertreter droht noch weiter zu schrumpfen. Scholz und Keller treten nicht wieder an. Keller war schon 2022 nach sechs Jahren an der Spitze der grünen Europa-Fraktion vom Vorsitz zurückgetreten. Sie galt als die einflussreichste Brandenburgerin im Parlament, 2014 und 2019 war sie europäische Spitzenkandidatin. Jetzt zieht sie sich aus der Politik zurück.

Mann mit "Erklärbär-Syndrom"

Christian Ehler von der CDU will weitermachen, auch nach 20 Jahren. "Sie brauchen eigentlich zehn Jahre in Brüssel, um die Komplexität zu verstehen", erklärt der 60-Jährige sein Festhalten. "Für mich ist Europa nicht einfach mein Mandat, für mich ist Europa wirklich innerste Überzeugung. Da habe ich auch so ein 'Erklärbär-Syndrom', und auch noch so eine Begeisterung, die vielleicht meinem Alter gar nicht ansteht."

Ehler sitzt im wichtigen Industrieausschuss des Europaparlaments und ist hier gut vernetzt. Die Entwicklung in der Lausitz nennt er ein "Beispiel für das gute Europa". Denn Europa habe in der Lausitz immer geholfen, mit Kohleplattform, Struktur- und Transformationsfonds. Da will er dranbleiben, so leicht kriege man ihn da nicht weg, sagt Ehler im Gespräch mit rbb|24. "Außer die Wähler wollen's."

Die Wählerinnen und Wähler entscheiden am 9. Juni. Auch wenn Ehler auf der CDU-Landesliste den ersten Platz besetzt und die CDU in bundesweiten Umfragen zur EU-Wahl weit vorn liegt, ist längst nicht ausgemacht, dass es Ehler wieder ins Parlament schafft. Es kommt auf die Wahlbeteiligung an, denn am Ende wird Brandenburgs CDU-Liste mit den Listen anderer CDU-Landesverbände gegengerechnet.

AfD will EU-Einfluss zurückdrängen

Eine völlig andere Perspektive auf Europa hat Mary Khan-Hohloch. "70 Prozent unserer Gesetze kommen aus Straßburg und Brüssel", sagt die AfD-Kandidatin aus Potsdam. Ihre These stimmt in dieser Absolutheit nicht - denn zwar basieren Gesetze oft auf EU-Entscheidungen, aber deutsche Gesetze macht immer noch der Bundestag. Und an EU-Entscheidungen sind auch die deutsche Regierung und deutsche Parlamentarier beteiligt.

Die AfD will den Einfluss der EU zurückdrängen. "Man kann zum Beispiel aus dem Genfer Flüchtlingsabkommen aussteigen", sagt die 30 Jahre alte Khan-Hohloch, deren Vater vor 50 Jahren selbst als Flüchtling aus Pakistan eingewandert ist.

Was sie sofort in Europa ändern würde, wenn sie könnte? "Grenzkontrollen einführen!" Khan-Hohloch steht auf Platz 14 der AfD-Bundesliste. Eigentlich dürfte das ein aussichtsreicher Listenplatz sein, denn die AfD kann laut Umfragen mit einem Stimmenzuwachs im Vergleich zu 2019 rechnen, als sie mit elf Abgeordneten einzog.

Doch der EU-Wahlkampf der AfD ist auch von Skandalen begleitet. Die Spitzenkandidaten Maximilian Krah und Petr Bystron treten wegen einer Reihe von Vorwürfen nicht mehr im Wahlkampf auf. Und auch Khan-Hohloch hat für Schlagzeilen gesorgt, weil ihr wegen ungenauer Angaben zum Lebenslauf beim Nominierungsparteitag eine Ämtersperre in der Partei droht. Sie selbst erklärt, die Vorwürfe seien ausgeräumt. Das sei alles eine Kampagne.

49-Euro-Ticket für Europa

Auch Sergey Lagodinsky kann darauf hoffen, weiter in Brüssel und Straßburg Politik zu machen. Der Berliner Rechtsanwalt steht auf Platz zwei der Bundesliste von Bündnis 90/ Die Grünen. Der Brandenburger Landesverband hat sich darauf festgelegt, die chancenreiche Kandidatur zu unterstützen. "Für Brandenburg in Europa", heißt es auf der Website des Landesverbands.

Lagodinsky, geboren im russischen Astrachan, aufgewachsen in der Sowjetunion, ist als Außenpolitiker aktiv. Er habe das Gefühl, dass sich gerade viele Menschen in Osteuropa wieder dem europäischen Gedanken geöffnet haben. Europa sei durch die Krisen - erst Covid, dann die russische Aggression gegen die Ukraine, jetzt die wirtschaftlichen Probleme - wieder enger zusammengerückt. Das will er auch ganz praktisch erleben: Er wünscht sich ein 49-Euro-Ticket für ganz Europa, damit Menschen unkompliziert mit der Bahn durch den Kontinent reisen können.

Kommunale und ländliche Perspektiven im Blick

Die Brandenburger Kandidatinnen und Kandidaten der anderen Parteien dürften es schwerer haben, einen Sitz im Europäischen Parlament zu erkämpfen. Listenplätze und Umfrageergebnisse passen nicht recht zusammen.

Brandenburgs SPD-Kandidatin Marie Glißmann auf Listenplatzplatz 21 hätte eine Chance, wenn die SPD mit einem Wahlergebnis von etwa 20 Prozent aus dem Rennen geht. In Umfragen liegen die Sozialdemokraten bei 15 Prozent. Beim parteiinternen Poker um die lukrativen Plätze hatten Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen oder Berlin als Vertreter der Ost-SPD offensichtlich die besseren Karten.

Das ist für die 29-Jährige, die mit ihrem kleinen Sohn in Frankfurt (Oder) lebt und aus der Prignitz stammt, bitter. Denn sie hat eine sehr europäische Perspektive, studierte an der Viadrina, spricht fließend Russisch und lernt Ukrainisch. Das Studium führte sie auch nach London, Wroclaw und ins russische Pensa. Glißmann will sich für die ländlichen Regionen in Europa stark machen.

Für die Linke tritt Martin Günther an. Er arbeitete bisher als wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bundestagsbüros der Linken und für die Linkspartei. Der Bernauer (Barnim), der am Wahltag auch in die Stadtverordnetenversammlung gewählt werden will, hat sich die linke Maxime zu eigen gemacht: "Global denken, lokal handeln".

Im Europaparlament will er unter anderem das Thema Mieten angehen, die Regulierung von großen Wohnungskonzernen steht auf seiner Agenda. Markt und Wettbewerb hätten in bestimmten Bereichen der Daseinsvorsorge, wie Wohnen oder Gesundheit, nichts zu suchen, so Günther. "Der Markt hat oftmals versagt, das haben wir live erleben können. Deshalb müssen wir ihn ab und zu mal zurückdrängen." Günther steht auf Platz sechs der Linken-Liste.

Auf Platz acht der FDP-Liste bewirbt sich der Eberswalder Martin Hoeck. Für ihn sei Europa mehr als nur Fördergeld, er will sich auch um Themen wie Migration und Wirtschaft kümmern. Die Außengrenzen müssten geschützt sein, die irreguläre Migration müsse bekämpft werden. Hoeck zeigt sich dabei offen für "Menschen, die aus Asylgründen zu uns kommen und schutzbedürftig sind. Und Menschen, die wir auch für den Arbeitsmarkt brauchen."

Er selbst stellt sich auch mit seiner ganz persönlichen Vergangenheit dem Wettbewerb. Mit 16 Jahren war Hoeck der rechtsextremen DVU beigetreten, er verließ die Partei vier Jahre später, seit 16 Jahren ist er in der FDP. Die eigene Erfahrung nach dem Austritt aus der DVU habe ihn dazu gebracht, ein Jugendparlament zu gründen, um jungen Leuten eine Alternative für politisches Engagement zu zeigen.

Als Kommunalpolitiker will sich Hoeck um die europäische Vernetzung der Kommunen bemühen. Kein Wunder: Am 9. Juni bewirbt sich Hoeck auch um einen Sitz in der Stadtverordnetenversammlung von Eberswalde (Barnim), wo er schon jetzt Vorsitzender ist. Bei dieser Wahl hat er einen deutlich besseren Listenplatz: Für die FDP Eberswalde steht er auf Platz eins.

Diese Politiker aus Berlin und Brandenburg sitzen im nächsten Europaparlament

Europawahl 2024 in Berlin und Brandenburg

Die nächste Wahl zum Europäischen Parlament findet in Deutschland am 9. Juni 2024 statt. In Berlin und Brandenburg dürfen Menschen ab 16 Jahre an der Europawahl teilnehmen, wenn sie die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen oder Bürgerinnen und Bürger aus Ländern der Europäischen Union sind.

Beitrag von Thomas Bittner

6 Kommentare

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  1. 6.

    "Brandenburg in Brüssel zu finden, ist schwer." Nicht "schwer", sondern "schwierig"!

  2. 5.

    „Ihre These stimmt in dieser Absolutheit nicht - denn zwar basieren Gesetze oft auf EU-Entscheidungen, aber deutsche Gesetze macht immer noch der Bundestag. Und an EU-Entscheidungen sind auch die deutsche Regierung und deutsche Parlamentarier beteiligt.“
    Das klingt bewertend und nur bei einer Partei. Es ist ein „Eigentor“. So wird das nichts mit der sachlichen Auseinandersetzung. Denn, am Beispiel des Lieferkettengesetzes ist diese Bewertung nicht zu halten.

    P.S. Der liberale Kandidat müsste mit den liberalen Ansichten eigentlich 80% der Stimmen holen.

  3. 4.

    Zum Glück sitzen nicht mehr im EU Parlament.
    Die Menschen hier sind zu 90 % egoistisch und denken nur an den eigenen Vorteil. So kann man keine Politik für Europa machen.

  4. 3.

    "70 Prozent unserer Gesetze kommen aus Straßburg und Brüssel": Natürlich stimmt das in dieser Absolutheit nicht. Die deutschen Gesetze sind eine eigene Ausgestaltung von EU-Richtlinien. Hier liegt der Augenmerk auf Konformität mit der EU. Hier verwechselt der Autor die Ausgestaltung bestehender Gesetze mit den neuen Gesetzen und Verordnungen, Es sind so gesehen sogar mehr als 70%.

  5. 2.

    Nach lesen des RBB Textes wüsste ich jetzt nicht, womit die vom RBB beklagten "Negativschlagzeilen" begründet werden könnten. "Grenzkontrollen einführen!" ist aus meiner Sicht dringender denn je und wird plakativ ja auch von Kandidaten von anderen Parteien gefordert, nur ob sie dann wirklich was in dem Sinne tun, daran gibt es halt Zweifel.

  6. 1.

    Mir war nicht bekannt, dass Ehler bereits seit 20 Jahren im Parlament sitzt,
    dann wird's auch langsam Zeit.

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