Interview | Verfassungsrechtler Dieter Grimm - "Die EU ist eben kein Staat"

Mi 15.05.24 | 10:21 Uhr
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Dieter Grimm, Verfassungsrechtler und ehemaliger Richter am Bundesverfassungsgericht (Quelle: Wissenschaftskolleg zu Berlin/Ostkreuz/Maurice Weiss)
Bild: www.ostkreuz.de

Schon der Wahlkampf sei problembeladen, sagt Dieter Grimm über die Europawahl. Der ehemaliger Bundesrichter sieht viele Schwachstellen im demokratischen Gefüge der EU. Einige davon seien nur schwer bis gar nicht aufzulösen, sagt er im Interview.

rbb|24: Herr Professor Grimm, Sie kritisieren seit mehreren Jahrzehnten, dass es in der Struktur der EU demokratische Defizite gibt. Was ist aktuell die größte Problemstelle?

Dieter Grimm: Aktuell fällt der Blick vor allem auf die Europawahl. Wir wählen ein europäisches Parlament, aber zur Wahl stehen nur nationale Parteien. Sie werben mit nationalen Programmen. Im europäischen Parlament spielen sie aber gar keine Rolle. Wir stöhnen in der Bundesrepublik schon, wenn wir sieben Parteien im Parlament haben. Im Europäischen Parlament gibt es über 200.

Die Akteure im europäischen Parlament sind europäische Fraktionen, die sich aber erst nach der Wahl bilden und programmlich festlegen. Die Wählerstimmen werden dadurch gewissermaßen abgeknickt. Die Parteien, welche man wählen kann, haben nichts zu sagen, die Fraktionen, die etwas zu sagen haben, kann man nicht wählen. Der Einfluss der Wähler auf die Europapolitik ist deswegen relativ gering, verglichen mit dem Einfluss der nationalen Wahlen auf die nationale Politik.

Für das Europäische Parlament sollten europäische Parteien kandidieren, die mit einem europapolitischen Programm auftreten. Die Europäischen Verträge lassen das schon jetzt zu. Es wäre keine Vertragsänderung nötig. Aber die nationalen Parteien haben kein Interesse daran.

Zur Person

Der Rechts- und Politikwissenschaftler Dieter Grimm wurde 1937 in Kassel geboren und hat mehrere Bücher zur Entstehungsgeschichte der Grundgesetzes geschrieben. Von 1987 bis 1999 war Grimm Richter am Bundesverfassungsgericht, anschließend lehrte er unter anderem als Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin. Bis 2007 war er zudem Rektor des Wissenschaftskollegs zu Berlin. Als Permanent Fellow beschäftigt er sich dort nach wie vor mit Fragen zu staatlicher Souveränität und Verfassungsrecht.

Welchen Vorteil versprechen sich die Parteien davon?

Die nationalen Parteien befürchten wohl einen Verlust an Einfluss, wenn sie nur noch Teil einer europäisierten Partei sind. Aber dazu kommt es ja doch auch jetzt schon, nur eben nach der Wahl, wenn die 200 nationalen Parteien etwa sieben europäische Fraktionen bilden. Die Leidtragenden sind die Wähler, deren Einfluss im gegenwärtigen System schwach ist.

Das, was Sie beschreiben, wird oft gemeinsam mit dem Begriff der "europäischen Öffentlichkeit" diskutiert. Die es ja eigentlich gar nicht gibt.

Eine europäische Öffentlichkeit gibt es nur in sehr eingeschränkter Form. Das hängt damit zusammen, dass wir in nationalen Kommunikationsräumen leben. Die traditionellen Medien sind nationale Medien. Nur im Netz ändert sich das etwas. Das bedeutet, dass wir die europäischen Themen vorwiegend unter unseren nationalen Gesichtspunkten diskutieren. Wir sehen das zum Beispiel daran, dass europäische Wahlergebnisse nur national thematisiert werden. Was wäre, wenn das die Bundestagswahl gewesen wäre?

Zudem kommunizieren wir in unseren jeweiligen Sprachen. Das heißt, die Kommunikationsräume sind schwer zu überschreiten. Die Zahl derer, die Englisch sprechen kann, wächst zwar, insbesondere unter den jungen Menschen - auch wenn die Briten inzwischen aus der Europäischen Union ausgetreten sind. Aber die Sprachkompetenzen im Englischen sind sehr unterschiedlich ausgebildet. Deswegen gibt es keinen dichten Kommunikationsraum auf europäischer Ebene und er lässt sich auch nicht einfach per Anordnung herstellen. So etwas muss wachsen und das dauert.

Ein Argument gegen europäische Parteien wäre, dass manche Themen in einigen Ländern eine sehr prägnante Rolle spielen, in anderen aber nicht. Würden solche regionalen Probleme nicht zwangsläufig in den Hintergrund rücken, wenn Parteien die Wähler in der gesamten Union überzeugen müssten?

Die europäischen Parteien müssen dem Wähler ein europapolitisches Programm anbieten, dass bereits einen Ausgleich der verschiedenen nationalen Interessen enthält. Die Kandidaten in den Wahlkreisen müssen es natürlich ihrer Wählerschaft schmackhaft machen. Es wird daher immer genügend Spielraum für nationale Besonderheiten bleiben.

Es gibt in fast allen EU-Staaten rechtspopulistische Parteien, die auch im Europaparlament vertreten sind. Aus deren Sicht wäre ein europaweiter Wahlkampf gar nicht vorstellbar. Das widerspricht schließlich dem, was sie wollen.

Ja. Wenn man kein wirklich integriertes Europa will, sondern nur einen lockeren Zusammenschluss von Nationalstaaten, kann man nicht dafür sein, dass es ein europäisiertes Parteiensystem gibt. Auf der anderen Seite gilt auch für populistische Parteien: Wenn sie sich nicht auf europäischer Ebene zusammenschlössen, hätten sie im Europäischen Parlament überhaupt keinen Einfluss. Und das kann ihnen auch nicht genehm sein.

Ich halte es für notwendig, dass das Parlament ein Initiativrecht bekommt.

Dieter Grimm, ehemaliger Bundesverfassungsrichter

Wir wählen am 9. Juni ein Parlament, das selbst keine Gesetze vorschlagen kann. Würde dieser Umstand nicht noch mehr ins Auge fallen, wenn keine 200 Parteien mehr im Europaparlament säßen, sondern sieben oder acht?

Ich finde, es ist ein Anachronismus, dass das Initiativrecht für EU-Gesetze nur die Kommission hat. Weder der Rat der Europäischen Union hat ein Initiativrecht noch das Parlament. Sie sind daran gebunden, dass die Kommission aktiv wird. Das Parlament ist dabei in einer schlechteren Situation als der Rat. Wenn der Rat gegenüber der Europäische Kommission die Erwartung äußert, dass sie die Initiative ergreift, dann geschieht das in der Regel. Das Parlament ist viel größer und viel weniger geschlossen. Da kann sich die Kommission zurückhaltender geben. Ich halte es für notwendig, dass das Parlament ein Initiativrecht bekommt.

Solange die Europäische Union kein Staat ist, sondern eine von Staaten getragene supranationale Organisation, ist es allerdings konsequent, dass das Parlament nicht die erste Rolle spielt. Die spielt der Rat, in dem die Regierungen der Mitgliedstaaten vertreten sind.

Wir haben bei einigen Krisen in den vergangenen Jahren gesehen, dass einzelne Länder die EU blockieren können. Etwa die ungarische Regierung bei der Fragen nach gemeinsamen Russlandsanktionen. Mir erscheint das recht undemokratisch: Die Regierung eines Landes indem ich nicht abstimmen darf, kann eine Organisation ausbremsen, deren Entscheidungen auf mein Leben großen Einfluss haben.

Für die Abstimmungen im Rat gelten unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse, je nach Bedeutung des Gegenstandes, über den abgestimmt wird. Das haben die Staaten ausgehandelt und in den europäischen Verträgen einstimmig niedergelegt. Die nationalen Parlamente, also die Hauptträger der Demokratie in den Mitgliedstaaten, haben zugestimmt. Man kann das ändern, indem man die Verträge ändert, was aber wiederum Einstimmigkeit voraussetzt, also schwer erreichbar ist. Die kleinen Länder würden kaum dazu bereit sein, erheblich an Stimmgewicht zu verlieren. Nochmals: Die EU ist eben kein Staat.

Bleiben wir bei den kleinen Ländern. Malta hat aktuell sechs Sitze im Europaparlament, Deutschland 96. In Malta sind rund 330.000 Menschen wahlberechtigt, in Deutschland mehr als 64 Millionen. Das heißt, während ein Abgeordneter aus Malta die Interessen von etwa 55.000 Bürgerinnen und Bürgern im Europaparlament vertritt, stehen deutsche Abgeordnete theoretisch stellvertretend für knapp 670.000. Könnten solche groben Missverhältnisse irgendwie abgemildert werden, ohne dabei das Europaparlament gigantisch aufzublasen?

Sowohl das Bedenken, das ich aus Ihrer Aussage heraushöre, ist berechtigt, wie auch die Feststellung, dass das Problem nur schwer zu lösen ist. Das ist ein Missverhältnis, und das Bundesverfassungsgericht hat dies unter demokratischen Gesichtspunkten kritisiert. Zum letzten Mal wurde die Stimmenverteilung im Vertrag von Nizza geregelt. Das war im Jahr 2001. Sechs Jahre später, als der Vertrag von Lissabon verhandelt wurde, kam in Polen der Schlachtruf auf "Nizza oder der Tod". Denn bei einer Neuverteilung hätten die Polen wohl Stimmen im Parlament verloren.

Übrigens verhält es sich im deutschen Bundesrat ja ähnlich. Dort folgt die Stimmenzahl der Länder auch nicht exakt den Einwohnerzahlen. Bremen hat drei Stimmen, Nordrhein-Westfalen sechs. Dadurch haben die Stimmen der kleinen Länder mehr Gewicht und die der großen weniger. Im Europäischen Parlament ist das genauso. Und auch hier gilt: Die EU ist kein Staat, und die kleineren Staaten würden sich gegen ein reines Proporzsystem wehren.

Die Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel sagt: Ob die EU ein Demokratiedefizit hat und falls ja, wie groß es ist, hängt davon ab, als was man sie betrachtet. Vergleicht man sie mit Staaten, ist sie in vielen Aspekten wenig demokratisch. Sieht man sie als politische Organisation, ist sie überaus demokratisch.

Da kann ich zustimmen. Ich kenne keine internationale Organisation, die einen ähnlichen Demokratiegrad erreicht hat wie die Europäische Union. Dennoch steht die Europäische Union weit hinter vielen Mitgliedstaaten zurück. Das heißt nicht, dass jeder Mitgliedstaat ein Idealfall an Demokratie wäre. Aber im Durchschnitt ist der Demokratiestandard in den Mitgliedstaat entschieden höher als in der Europäischen Union.

In meinen Augen ist das aber kein Vorwurf. Es handelt sich bei der EU eben nicht um einen Staat, sondern um eine internationale Organisation mit begrenzten Aufgaben. Und sie wird getragen von den Staaten, die ihre Souveränität nicht aufgeben wollen. Ich glaube, wir können davon ausgehen, dass die Zahl der Staaten, die nicht bereit sind ihre Souveränität aufzugeben, derzeit eher wächst, als dass sie kleiner wird.

Ist es überhaupt möglich, die Demokratiedefizite der EU abzubauen, ohne dies als Richtungsentscheidung hin zu einem europäischen Super-Staat zu begreifen?

Wenn das Demokratieniveau der Europäischen Union vergrößert wird, wird automatisch das Demokratieniveau der Mitgliedstaaten verringert. Gehen den Mitgliedstaaten Aufgaben verloren, sinkt im selben Ausmaß die Bedeutung der nationalen Institutionen und der nationalen Verfassungen. Das ist sozusagen ein Nullsummenspiel zwischen der EU und ihren Mitgliedstaaten. Wo da die richtige Grenze liegt, ist nicht leicht zu beantworten.

Damit ist aber nicht gesagt, dass sich das der Demokratie-Standard der EU nicht erhöhen ließe, ohne dass sie dadurch zum Staat würde. Über die Europäisierung der Europawahl haben wir bereits gesprochen. Es bleibt aber dabei, dass die Voraussetzungen für eine substantielle, nicht bloß formale Demokratie im Staat wesentlich besser sind als in der EU.

Was uns fehlt, ist eine Diskussion darüber, wie wir uns das Ziel der europäischen Integration vorstellen. Dabei ist das eigentlich die Grundfrage: Soll die EU ein Staat werden oder soll sie bleiben, wie sie ist? Doch diese Frage wird von vielen Politikern aus den Mitgliedstaaten gemieden. Ich halte das für einen Fehler.

Was bedeutet das alles für die Akzeptanz der EU in der Bevölkerung?

Die Strukturen der EU sind schwerer zu verstehen als die von Staaten. Es handelt sich eben nicht um ein parlamentarisches System mit dem Gegensatz von Regierung und Opposition, wie wir es aus unseren Staaten kennen. Zudem ist die Konsensfindung wegen der vielen Beteiligten in der EU noch schwieriger als im Staat. Entscheidungen dauern länger und fallen kompromisshafter aus. Das führt zu Enttäuschungen. Der Eindruck, dass man auf die Politik noch weniger Einfluss nehmen kann als im Staat, wächst.

Hinzu kommt, dass in vielen Mitgliedstaaten die politischen Kräfte zunehmen, die den Nationalstaat stärken möchten oder sogar den Austritt aus der EU anstreben. Das liegt quer zu dem Umstand, dass diejenigen Probleme zunehmen, die im Rahmen der Nationalstaaten nicht mehr lösbar sind, sondern internationaler Lösungen bedürfen. Ein Zusammenschluss von Staaten wie die EU ist die Konsequenz dieser Situation. Es kann also nur darum gehen, die EU zu verbessern, nicht sie abzuschaffen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Dieses Interview führte Oliver Noffke.

15 Kommentare

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  1. 15.

    Die EU- Macht konzentriert auf sich die Europäische Kommission, der Rat und das Parlament haben kein Initialrecht.
    Fazit, das Parlament ist mehr oder weniger nur zum Abnicken da, aber am Rat kommt die Kommission doch nicht immer so leicht vorbei.

  2. 14.

    Europa ist eine praktisch agierende Ebene, auf die der Wähler aber wegen der ausschließlichen Wählbarkeit nationaler Parteien und Parteiprogramme faktisch wenig bis keinen Einfluss nehmen kann. Darum geht es ja auch in dem Interview. Der Wähler braucht die Notwendigkeit, Parteifamilien mit einem gemeinsamen europäischen Programm wählen zu können und nicht die Wundertüte, die er jetzt nach seiner Stimmabgabe bekommt. Entweder, wir sind ein politisch gemeinsames Europa, mit allen Konsequenzen und dazu gehören europäische Parteien und ein echtes europäisches Parlament mit allen Rechten und Pflichten, oder wir sind ein loser Staatenbund, bei dem sich dann aber Brüssel aus rein nationalen Interessenlagen herauszuhalten hat.

  3. 13.

    EU - gute Idee, aber fern der Menschen.

    In Brandenburg erscheint Bundeskanzler Scholz auf die Wahlplakate! Wohl mangels SPD Kandidat.

    Es wäre gut wenn um Stimmen "gebeten" wird, mit "bitte", höflich.

  4. 12.

    Aber wir sind doch in einer Lage, wo alle politischen Probleme zunehmende global und lokal zu sehen sind. Europa als Ebene dort noch neu einzubringen, wie soll das praktisch mit welchem Gewinn gehen, über die Fraktionen hinaus, die im Europaparlament existieren? Gut finde ich alle Fragen, die auf einen direkteren Einfluss des EP hin wirken. Und gut 200 Parteien aus allen Mitgliedsstaaten der EU klingen viel, sind aber auf die ganze EU bezogen nicht viele. Themengewichtungen sind je Land und gleich klingender Partei durchaus sehr unterschiedlich. Nur wie könnte man sich dann im EP auf ein Parteiprogramm für alle Staaten, das in der ganzen EU wählbar würde, je einigen? Das erscheint mir als europäische Utopie. Die Vielstimmigkeit macht das EP aus, das ich nicht als völlig machtlos ansehe. Die Tories machen Brexit, die CDU will die EU; wo soll sich denn ein gemeinsames EP-Programm ergeben?

  5. 11.

    Danke für dieses Interview. Zumindest weiß ich jetzt, warum mir die Wahlkampfparolen so merkwürdig national erschienen. Hatte mich schon gefragt, was manches davon mit der EU zu tun hat.
    Eigentlich ist es eine schöne Vision, wenn wir Europäer uns mehr als solche identifizieren würden und nicht so sehr national.

  6. 10.

    Leider wieder die selbe unreflektierte Kapitalismuskritik. Was glauben Sie eigentlich, was passiert wäre, wenn man 2008 die Banken nicht gerettet hätte? Kleiner Tipp: Die "Reichen" hätte es am aller wenigsten getroffen. Davon ab haben die Banken für die Fehlverhalten in der Vergangenheit inzwischen Unsummen gezahlt. Tun Sie doch nicht so, als wäre hier Geld verschenkt worden, um die Schere zwischen arm und reich noch weiter zu öffnen.
    Dass kleine Firmen zunehmend verdrängt werden, ist im Übrigen Folge der Politik der letzten Jahre, die Firmen mit Kosten und Bürokratie immer stärker belastet und damit zusätzliche Wettbewerbsvorteile für Großkonzerne überhaupt erst schafft. Je stärker der Staat da eingreift, um so mehr wird dieser Trend verstärkt. Von der notwendigen Lenkung durch Schranken sind wir schon lange weggekommen, hin zu staatlichen Vorgaben. Das ist in der Geschichte noch nie gut gegangen.

  7. 9.

    Ich verstehe den Widerspruch leider nicht, wo das Problem europäischer Parteien sein soll. Ganz im Gegenteil könnte der EU-Bürger dann endlich ein klares Parteiprogramm mit klaren Köpfen dahinter wählen. Eine vergleichbare Situation haben wir doch heute in Deutschland genau so. Für die Kommunal-, die Kreistags-, die Landtags- und die Bundestagswahlen stehen verschiedene Parteiorganisationen zur Wahl. Die Kommunal-SPD ist auch nicht identisch mit der Bundes-SPD, um mal ein Beispiel zu nennen. So kann man kommunal vielleicht durchaus SPD wählen, auch wenn einem deren Bundespolitik gegen den Strich geht. Bei der Europawahl wähle ich dagegen deutsche Politiker, ohne zu wissen, ob diese sich überhaupt einer Koalition anschließen und was diese Koalition programmatisch fordert, weil ich die Wahlprogramme der Parteien der anderen EU-Länder gar nicht kennen kann. Wie soll eine Wählerstimme da eine lenkende Wirkung entfalten?

  8. 8.

    Gemeinsamer Markt meint aber nicht dieselben Bedingungen, Zugang zu diesem zu haben. Die großen Akteure, ob Staaten oder Firmen, werden gefördert, kleine zurückgedrängt. Das gefährdet Marktstabilität. Die Eu-Finanz- und Schuldenkrise hat das belegt. Die achso-sicheren Währungssysteme wurden nebst privaten banken mit 15 Bio. Euro - ein Viertel des Weltjahreseinkommens - "gerettet", an Parlamenten vorbei und aus Kassen, die niemand kennt. Und noch unter Schäuble wurde ein Mechanismus eingeführt, der Banken unmittelbar "rettet". Arme etc. sind keine Belastung, Finanzlobbys schon. Das ist Distanzlosigkeit zum Finanzmarkt, von dem man sich abhängig gemacht hat und keine Freiheit oder Errungenschaft, wie Sie es hier darstellen. Schon gar nicht ist die Marktpolitik nennenswert, wenn es um die Eu geht, wie sie sich konstituiert, wie sie arbeitet, welche Länder wie unterschiedlich arbeiten. Sehr oberflächlicher und materialistischer Blick, der wenig mit Demokratie zu tun hat.

  9. 7.

    Ich halte Herrn Grimms Einschätzungen für klug und weitestgehend zutreffend, aber auch für widersprüchlich. In der Tat braucht es eine Internationalisierung des Parteienangebots, eine bewusste, europäische, überstaatliche Ebene. Jedoch ist es mitnichten so, dass mit kraftvollem Parlament mit Initiativrecht und europäischen Parteien automatisch ein Demokratieabbau in den Nationalstaaten vonstatten ginge. Es gibt sehr viele Bereiche, die immer Landesrecht bleiben werden und eben jene, die sich ausdrücklich aufdrängen, sie auf supranationaler Ebene anzugehen.

    Was hier zur Konstitution der Hauptelemente der EU noch fehlt, ist, dass die Kommission als alleiniger gubernativer Akteur handeln muss, erstens, und dass sie aus dem Parlament hervorgehen muss, zweitens. Wenn die Befugnisse der Kommission den EU-Ländern zu weit gehen, kann man das vertraglich vorher regeln. Es liegt in keinster Weise ein Widerspruch darin, die EU und ihre Staaten gleichermaßen zu demokratisieren.

  10. 6.

    Das EU Parlament ist zum größten Teil ein Papiertiger. Nicht einmal Gesetzesinitiativen kann es veranlassen.

    Für gescheiterte Politiker oder wer bei der eigenen Partei nicht mehr wohlgelitten ist da ist das EU Parlament eine sichere Einkommensquelle. Beispiele in Deutschland gibt es genug. Mc Allister oder die Straußtochter sind Beispiele. Unser jetziger Landwirtschaftsminister hat im EU Parlament auch schon Zeiten überbrückt und damit Einkommen gesichert. Offiziell „kämpfen“ sie ja für Europa.

  11. 5.

    Die Idee europäische Parteien direkt zu wählen, klingt so, als ob das bestehende politische Konfliktlagen lösen könnten. Im Grunde sind wir doch schon in der Situation, dass das Parteiengefüge in Europa, sogar in der Welt sich global beeinflusst, auch teils global manipulieren will. Wir sind in der Situation, dass sich europäische Sozialisten verbünden, oder konservative Parteien verbünden oder sogar rechtsnationale Parteien international verbünden. Zugleich besteht das Problem, neue europäische Parteien müssten in jedem Land in den jeweiligen Landessprachen für ihre Ziele werben, sie müssten in jedem Land neue Vertretungen haben. Aber die bestehende Parteienlandschaft ist ja schon durch die EU europäisch vernetzt auch die Parteien der jeweiligen Blöcke im Europaparlament. Entschuldigung, der Vorschlag neuer europäischer Parteien, über die bestehende auch schon internationalisierte Parteienlandschaft hinaus erscheint mir als wenig politisch ergiebig im globalen Geschehen.

  12. 4.

    Camerons Reformvorschläge hätte man vor 10 Jahren beherzigen sollen, dann wäre GB noch in der EU, zum Vorteil beider Seiten. Vorrangig war damals die Migration, kein EU-Land kann völlig souverän über die Migration in das eigene Land entscheiden (weshalb es ja auch die Konflikte mit den Vishegradländern, namentlich Polen und Ungarn gibt). Zudem hatten die Britten den Eindruck Souveränität + Identität zu verlieren. Das können die Deutschen nicht verstehen, da es im Interesse der Deutschen ist eine EU im Wesentlichen nach deutschen Vorstellungen zu entwickeln. Wichtig wäre den europäischen Zusammenhalt zu stärken und das Thema Migration jedes Land selber entscheiden zu lassen, so wie es Orban auch vorgeschlagen hatte, aber von Merkel abgelehnt wurde. Wir haben also auch der Starrsinnigkeit Merkels den Verlust des EU und Euro-Stabilisators Großbritannien zu verdanken. GB saß ja mit im ECOFIN-Rat und hatte Einfluss auf das EZB-Personal und sorgte somit für einen harten Euro.

  13. 3.

    Das Problem der derzeitigen EU ist schlicht, dass sie nichts Halbes und nichts Ganzes ist. Die EU ist kein Staat, allerdings verhält sich Brüssel sehr oft genau so, als wäre es einer und erlässt Vorschriften, die teilweise den nationalen Interessen zuwider laufen und dann trotzdem in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Die Idee der EU ist an sich sehr gut, aber die Umsetzung in Teilen undemokratisch und vor allem für den Bürger nicht nachvollziehbar. Das ist aber national durchaus nicht ungewollt, denn so kann die Regierung bei unangenehmen Dingen immer die Schuld auf die EU schieben. Was wir bräuchten wäre eine klare Bestimmung, welche Bereiche die EU, welche die Staaten und welche ggf. z.B. wie in Deutschland die Bundesländer gesetzlich regeln dürfen und müssen sowie die entsprechende Gesetzgebungskompetenz. Und ja, dafür bräuchte es dann auch europäische Parteien, die man direkt wählen kann.

  14. 2.

    Der gemeinsame Wirtschaftsraum der EU ist ohne Frage ein Segen, aber eine gemeinsame Währung ist dafür definitiv nicht die Voraussetzung. Mehrere sehr erfolgreiche Länder in der EU haben unverändert ihre Landeswährungen und keinerlei Bestrebungen, dies zu ändern, denn der Euro bringt durchaus auch Nachteile mit sich. Natürlich ist es schön und vorteilhaft und im Zahlungsverkehr deutlich einfacher, wenn man nicht ständig umrechnen muss. Allerdings macht die EZB den Euro langsam kaputt, weil sie ihn über diverse Instrumente auch zum Mittel der Staatsfinanzierung der schwächeren Euro-Länder nutzt. Das bremst den Anreiz, die Schuldenquoten einzuhalten, um den EUR stabil zu halten. Das äußert sich auch darin, dass der Wert des Schweizer Franken ohne Eingriff der dortigen Zentralbank durch die Decke gehen würde. Zum Dollar ist das Problem nur deshalb kleiner, weil auch die Amerikaner immer mehr Schulden anhäufen. Aber Schulden müssen irgendwann auch mal wieder abbezahlt werden.

  15. 1.

    Das eigentliche Wunder der europäischen wirtschaftlichen Integration in der EU ist der gemeinsame Euroraum. Er schafft einen gemeinsamen Markt und senkt die Preise z.B. im Vergleich zur Frankenenklave Schweiz. Dort versuchen Kunden massenhaft dem zu entkommen, mit mehr oder weniger Erfolg, denn die Politik dort steuert gegen. Ein trauriges Drama zwischen reich und arm in einem vermeintlich nur reichen Land. Der gemeinsame Markt ermöglicht auch berufliche Mobilität. Er stellt eine transnationale Wirtschaftskraft dar. Der Franken als Objekt von Währungsspekulationen bleibt umzingelt vom Euro DAS europapolitische Drama der nächsten Jahre. Ganz nebenbei geht es dabei auch um moralische Standards von Banken. Die Euro-Währungs-Politik hängt an der Frage, wie mit armen Menschen in Europa umgegangen wird, auch in der Schweiz und in England. Doch Menschen ohne Vermögen haben wenig politischen Einfluss.

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