Demokratiedefizit - Wie demokratisch ist die EU?
Einige Institutionen oder Arbeitsweisen der EU stehen seit Jahrzehnten in der Kritik. Sie seien nicht demokratisch genug, so der Vorwurf. Nur wie schwer wiegen diese Demokratiedefizite? Schließlich ist die EU kein Staat. Von Oliver Noffke
- EU ist durch Europaparlament und Europäischen Rat doppelt legitimiert
- EU-Interessen und nationale Interessen können aufeinanderprallen
- Unterschiedliche Machtinteressen führen zu institutionellen Demokratiedefiziten
- Kritik an Gesetzgebungsverfahren, fehlender Wahlgleichheit, Exekutivföderalismus
Bei der Europawahl im Juni sind rund 350 Millionen Menschen zur Stimmabgabe aufgerufen. So viele wie nie zuvor. Damit gilt die EU-Wahl als eine der größten der Welt. Dennoch wird immer wieder sowohl dem Prozedere mit Zweifeln begegnet, wie auch dem Parlament, der Kommission und einigen weiteren Grundpfeilern der Union: So richtig ideal demokratisch ist das doch alles nicht, oder?
Der Vorwurf, eklatante Demokratiedefizite eingebaut zu haben, ist so alt wie die Europäische Union selbst. An vielen Kritikpunkten ist etwas dran. Allerdings komme es auf den Blickwinkel an, sagt die deutsch-französische Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel rbb|24. Sie beobachtet und analysiert die politische Entwicklung der EU für Europe Jacques Delors, eine in Brüssel angesiedelte Denkfabrik, und ist Autorin des Buches "Am Ende der gewohnten Ordnung - Warum wir Macht neu denken müssen".
"Im Grunde ist das ein Missverständnis", sagt Pornschlegel. "Gerade in Deutschland ist die Vorstellung verbreitet, dass die EU auf internationaler Ebene so arbeitet wie die Bundesrepublik auf nationaler. Dass etwa das Europäische Parlament und die Kommission genauso funktionieren wie der Bundestag und die Regierung."
Doch so funktioniere Europa nunmal nicht. Denn die politischen Systeme der 27 Mitgliedstaaten seien schlicht zu verschieden, sagt sie. "Die Europäische Union ist ein sogenanntes sui-generis-Modell. Sie ist einzigartig." Teil dieser Einzigartigkeit ist, dass die EU doppelt legitimiert wird. "Einerseits durch die Bürgerinnen und Bürger, die direkt das Europäische Parlament wählen. Aber auch indirekt durch den Europäischen Rat, der aus den Staats- und Regierungschefs besteht."
Die Ewigkeit des Grundgesetzes
Diese doppelte Legitimität hat zur Folge, dass in der EU mehrere Interessen aufeinanderprallen. Zum einen natürlich die der EU selbst. Festgeschrieben in den gemeinsamen Verträgen.
Außerdem prägen die nationalen Interessen der Mitgliedstaaten die Arbeit und Funktionsweise der Union. Durch den sogenannten Ministerrat sowie die Runde der Staats- und Regierungschefs können sie Einfluss nehmen. Souveränität abzugeben liegt nicht im Interesse der EU-Mitglieder. Teilweise widerspräche das sogar ihren Landesverfassungen.
Das Bundesverfassungsgericht ist etwa zu dem Urteil gekommen, dass die Integrationsbereitschaft Deutschlands begrenzt ist [bundesverfassungsgericht.de]. Einerseits verpflichtet das Grundgesetz das Land zwar zur Verwirklichung eines vereinten Europas [gesetze-im-internet.de]. Doch die deutsche Verfassung enthält auch eine Ewigkeitsgarantie [bundestag.de]. Diese versichert, dass die Grundrechte, die im ersten Artikel festgeschrieben sind, sowie Artikel 20, nach dem die Bundesrepublik ein föderaler Staat ist, für alle Zeiten gelten sollen. Das vereinte Europa wird in Artikel 23 erwähnt [gesetze-im-internet.de].
Das schließt nicht aus, dass die Bundesrepublik sich irgendwann als Bundesstaat einem europäischen Super-Staat anschließen kann. Eine sogenannte "verfassungsgebende Volksabstimmung" könnte das Grundgesetz durch eine neue Verfassung ablösen. Theoretisch also auch durch eine gemeinsame Verfassung der EU-Staaten. Aber nur, wenn darin die Rechte aus Artikel 1 und 20 des Grundgesetzes garantiert werden. Auf ewig.
Das ist eine sehr hohe Hürde, die einer vollkommenen Integration und Abgabe von Befugnissen an die EU im Wege steht. Die unterschiedlichen Machtinteressen, die durch die doppelte Legitimierung in einer Art Wettbewerb miteinander stehen, werden durch ein kompliziertes Gefüge ausbalanciert. Das führt zu mehreren institutionellen Demokratie-Defiziten.
Das eingeschränkte Parlament...
In der EU darf nur die Kommission Gesetzesvorlagen ausarbeiten. Weder das Parlament noch der Ministerrat können das, obwohl sie die Gesetze verabschieden. Aus Sicht des Verfassungsrechtlers und ehemalige Bundesverfassungsrichters Dieter Grimm ist das ein Anachronismus. "Ich halte es für notwendig, dass das Parlament ein Initiativrecht bekommt", sagt er im Gespräch mit rbb|24. Zwar kann das Parlament die Kommission dazu auffordern, tätig zu werden. Doch die Abgeordneten haben keine Möglichkeit unmittelbar Wahlversprechen einzulösen.
Das Parlament steht auch im Zentrum eines weiteren Kritikpunkts an der Qualität der EU-Demokratie: fehlende Wahlgleichheit bei der Europawahl. Aktuell hat das Europaparlament 705 Sitze. Jedem EU-Staat werden sechs Grundmandate garantiert. Für das Mitglied mit der kleinsten Bevölkerung, Malta, bedeutet dies, dass ein maltesischer Abgeordnete etwa 55.000 Wahlberechtigte im Parlament vertritt. Für Deutschland ergibt sich ein Wert von etwa 670.000 Wählerinnen und Wählern pro Abgeordnetem. Im Vergleich zur gesamten Bevölkerung, nicht nur dem wahlberechtigten Teil, ist das Missverhältnis sogar noch deutlicher.
Dass dieses Problem aufgelöst werden kann, glaubt Grimm nicht. "Die EU ist kein Staat, und die kleineren Staaten würden sich gegen ein reines Proporzsystem wehren." Schon jetzt ist umstritten, ob mit sechs Abgeordnetenstimmen überhaupt die gesamte politische Bandbreite eines Landes abgebildet werden kann - egal, wie klein es ist. Man müsste das Parlament also vergrößern, um diese Missverhältnise aufzulösen. Deutlich vergrößern.
Ein Alleinstellungsmerkmal der EU ist eine solche Ungleichheit allerdings nicht: Im Bundesrat gibt es schließlich ein ähnliches Problem. "Dort folgt die Stimmenzahl der Länder auch nicht exakt den Einwohnerzahlen", sagt Grimm. Während das kleine Bremen drei Stimmen im Bundesrat besitzt, hat Nordrhein-Westfalen nur sechs. Dabei hat NRW fast 32-mal mehr Einwohner als die Hansestadt. "Dadurch haben die Stimmen der kleinen Länder mehr Gewicht und die der großen weniger. Im Europäischen Parlament ist das genauso."
...und die Macht der Minister
Eine dritte Kritik an den Institutionen betrifft den Ministerrat. Was in Europa Gesetz werden soll, muss seine Zustimmung erhalten - sowie die das Parlaments. Der Ministerrat gehört also zur Legislative der EU. Weil er sich aus Regierungsmitgliedern der Nationalstaaten zusammensetzt, kommt er jedoch mit dem Gebot der Gewaltenteilung in Konflikt. Denn die Minister sind in ihren Ländern Teil der Exekutive. Politikwissenschaftler:innen sprechen von Exekutivföderalismus.
Es gibt verschiedene Ansichten dazu, inwieweit das in der EU noch ein echtes Problem darstellt. Zum einen ist sie kein Einzelfall, auch der Bundesrat fällt in die Kategorie Exekutivföderalismus. Außerdem können die Mitgliedstaaten selbst entscheiden, welches Mandat sie ihren Abgesandten im Ministerrat zugestehen. Es ist möglich, dass diese sich vor einer Abstimmung erst das Okay ihres nationalen Parlaments einholen müssen.
"Wir haben 24 offizielle Sprachen in der EU"
Politikwissenschaftlerin Sophie Pornschlegel sagt, die EU habe vor allem dann ein Demokratiedefizit, wenn man sie wie einen Staat sehen wolle. "Doch das ist sie nunmal nicht und deshalb hinkt der Vergleich", sagt sie. "Betrachtet man sie als eine internationale politische Organisation, funktioniert die Arbeit der EU bereits deutlich demokratischer als andere." Verfassungsrechtler Grimm bekräftigt das: "Ich kenne keine internationale Organisation, die einen ähnlichen Demokratiegrad erreicht hat wie die Europäische Union."
Beide sehen ein viel grundlegenderes, weil strukturelles Problem: "Mit dem Demokratiedefizit der EU ist oft gemeint, dass es keine gemeinsame europäische Öffentlichkeit gibt", sagt Pornschlegel. "Wir haben 24 offizielle Sprachen in der EU, da bleiben Diskussionen oft im nationalen Raum." Abgesehen von Arte oder Euronews gibt es zudem kaum Medien, die Berichterstattung mit europäischen Blickwinkel anbieten. Zumal keine, die erfolgreich ein breites Publikum ansprechen.
Durch das Internet ändere sich das gerade etwas, sagt Grimm. Doch in den traditionellen Medien gebe es nach wie vor kaum Platz für andere Sichtweisen auf Europa als aus einer nationalen Perspektive. "Das bedeutet, dass wir die europäischen Themen vorwiegend unter unseren nationalen Gesichtspunkten diskutieren."
Frühere Generationen hätten die EU noch stärker als Friedensprojekt begriffen, erklärt Pornschlegel. "Wenn die EU Frieden bringt und Wohlstand, waren viele mit den Ergebnissen einigermaßen einverstanden." Doch das habe sich geändert. Die Themen, die heute auf europäischer Ebene diskutiert werden, seien oft konfliktbeladen. "Dafür kann die EU nicht unbedingt etwas", so Pornschlegel. "Aber sie hat auch nicht unbedingt die richtigen Instrumente, um aktuelle Herausforderungen zu lösen." Es liege nun einmal in den Händen der Mitgliedstaaten, die EU mit den Kompetenzen auszustatten, die notwendsig sind, um die globalen Herausforderungen anzugehen, sagt sie.