Bilanz | Rot-Schwarz in Berlin - Noch jede Menge Luft nach oben
Fast fünf Jahre haben SPD und CDU gemeinsam Berlin regiert und durch bewegte Zeiten gesteuert. Ein Regierender Bürgermeister kam dabei abhanden, eine Olympiabewerbung ging baden und der BER ist noch immer Baustelle. Viel Häme gab es dafür. Gern übersehen wird aber, dass Berlin boomt. Von Jan Menzel
Zahlen sind bekanntlich das A und O einer jeden Bilanz. Und wenn der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) und sein Noch-Regierungspartner und Herausforderer Frank Henkel (CDU) die gemeinsame Regierungsarbeit Revue passieren lassen, darf diese eine nicht fehlen: 9,7 Prozent. So hoch ist die Arbeitslosenquote aktuell in Berlin - oder besser gesagt: so niedrig. Denn als die Große Koalition 2011 antrat, lag die Quote noch deutlich über 13 Prozent.
"Die Stadt steht heute besser da als vor fünf Jahren", resümiert der CDU-Fraktionsvorsitzende Florian Graf fast wortgleich wie sein SPD-Pendant Raed Saleh, der befindet: "Das waren gute Jahre für die Stadt". In großkoalitionärer Harmonie werden wahlweise der Aufstieg Berlins zur Start-up-Hauptstadt Europas oder die Schaffung zehntausender neuer sozialversicherungspflichtiger Jobs besungen. Wobei nie ganz trennscharf beantwortet wird, ob diese positive Entwicklung nun wegen oder trotz der Großen Koalition eingetreten ist.
Wasserbetriebe wieder in Landeshand
Die hat 2011 ziemlich geräuschfrei und effizient die Ärmel hochgekrempelt, was sicher auch mit der Verwunderung der CDU zusammenhing, unverhofft wieder in Amt und Würden zu kommen. Das lange bekämpfte Straßenausbaubeitragsgesetz - nicht nur dem Namen nach ein bürokratisches Ungetüm - wird schnell abgeschafft. Ein Punkt für die CDU. Die SPD wiederum sorgt dafür, dass das kostspielige Privatisierungsexperiment um die Wasserbetriebe beendet wird.
Das Unternehmen kommt komplett zurück in Landeshand. Mit dem Versprechen, parallel zum Rückkauf die Wasserpreise für die Berlinerinnen und Berliner zu senken, ist auch die CDU, die sich eher als Anwalt privater Konzerne sieht, mit im Boot.
Keine neuen Schulden
Zu Beginn der Koalition sieht es fast so aus, als könnten beide Partner auch in ideologisch festgefahrenen Bereichen gemeinsame Lösungen finden. Zumal SPD und CDU in der Haushaltspolitik an einem Strang ziehen. Neue Schulden sind tabu. Berlin erwirtschaftet sogar erkleckliche Haushaltsüberschüsse, zahlt eifrig Schulden zurück und sorgt dafür, dass der Berg an Verbindlichkeiten auf unter 60 Milliarden Euro schmilzt.
"Seit die Union regiert, hat Berlin keinen einzigen Cent neue Schulden aufgenommen", rief erst kürzlich Innensenator und CDU-Landeschef Frank Henkel in den Applaus seiner Parteifreunde. Kein Wort davon, dass die harte Kärrnerarbeit in den Jahren davor geleistet wurde und die Große Koalition erntet, was unter Rot-Rot gesät wurde. Oder wie es der Regierende Bürgermeister und SPD-Landesvorsitzende Michael Müller formuliert: "Der Mentalitätswechsel in der Finanzpolitik war unsere sozialdemokratische Politik."
Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht
Angesichts des heraufziehenden Wahlkampfs ist es kaum verwunderlich, dass beide Parteien zunehmend eifersüchtig Erfolge für sich reklamieren. Allerspätestens seit dem Rückzug Klaus Wowereits vom Amt des Regierenden Bürgermeisters ist aber auch klar, dass dieses Bündnis seinen Vorrat an Gemeinsamkeiten aufgebraucht hat, ganz zu schweigen von großen Visionen.
Bei den großen Zukunftsprojekten Klimaschutz und eng damit verbunden der Rekommunalisierung des Strom- und Gasnetzes fanden die Partner zu keiner vernünftigen Linie. Sinnbild des Scheiterns ist das Stadtwerk. Die SPD wollte es unbedingt, die CDU eigentlich nie. Herausgekommen ist ein Unternehmen, das von der Opposition als Bonsai verlacht wird und so konstruiert ist, dass es am Markt gar nicht erfolgreich sein kann. Wenn SPD-Fraktionschef Raed Saleh nun zum Ende der gemeinsamen Regierungszeit sagt: "Besser bei der Energiepolitik nichts übers Knie brechen als faule Kompromisse machen", zeigt das auch: Mehr war in dieser Konstellation nicht drin.
Geben und nehmen
Immerhin haben sich SPD und CDU in der Bildungspolitik, wo die Gräben traditionell besonders tief sind, auf ein Geben und Nehmen verständigt. Die verpflichtende Früheinschulung für alle Kinder wurde abgeschafft und das jahrgangsübergreifendende Lernen an den Grundschulen (JÜL) zur Option herabgestuft. Das war der CDU wichtig.
Die SPD setzte dafür den Ausbau der Ganztagsschulen fort und das Prinzip der kostenfreien Bildung von der Kita bis zur Hochschule durch. Ab diesem Sommer werden die Kita-Gebühren in Berlin schrittweise ganz abgeschafft.
Pannen-Flughafen und Lageso-Chaos
Überlagert wurden die guten Botschaften allerdings vielfach durch das, was nicht funktioniert. Die Dauerbaustelle des Flughafen wird auch dadurch nicht fertig und das Chaos um immer neue Eröffnungstermine des BER nicht weniger peinlich, dass Jahr für Jahr tausende Wohnungen neu gebaut werden und Bausenator Andreas Geisel (SPD) beinahe im Wochentakt in irgendeiner Ecke der Stadt Grundsteine legt.
Innensenator Frank Henkel dringt mit seiner Botschaft, dass die schweren Gewalttaten abgenommen haben und unter seiner Führung tausende Polizisten neu eingestellt wurden, kaum durch, weil die Polizei die Kriminalität am Görlitzer Park und auf dem RAW-Gelände nicht in den Griff bekommt. Das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) wurde zwischenzeitlich republikweit zum Inbegriff von Verwaltungsversagen - genauso wie Bürgerämter, die Bürgern keine Termine anbieten können.
Verwaltungsreform verschlafen
Die Problemzone Verwaltung, der leidige Kleinkrieg zwischen Bezirken und Senat, kurzum eine echte Verwaltungsreform: Das wäre eine Aufgabe gewesen, wie maßgeschneidert für eine große Koalition. Erledigen muss sie aber eine neue Regierung.
Immerhin wurde im Öffentlichen Dienst zuletzt wieder mehr Personal eingestellt. "Wir haben gerade noch die Kurve gekriegt", bilanziert CDU-Fraktionschef Florian Graf. SPD-Fraktionschef Raed Saleh erinnert daran, dass die Koalition praktisch "im laufenden Galopp vom 'Sparen bis es quietscht' zum nachhaltigen Investieren umgesteuert" habe.
Vieles müsse schneller und besser werden, räumte der Regierende Bürgermeister Michael Müller unlängst ohne Umschweife ein. Das sei aber noch lange kein Grund, miesepetrig zu werden. Schließlich zögen Jahr für Jahr 40.000 Menschen neu nach Berlin. "Die fühlen sich hier pudelwohl", so Müller. Berlin ist zweifellos attraktiv, es gibt auch noch jede Menge Luft nach oben.