Sorge vor steigenden Infektionszahlen - HIV-Medikamente werden knapp
In ganz Deutschland fehlt es an HIV-Medikamenten - Berlin ist als Hotspot besonders betroffen. Ärzte und Verbände warnen vor steigenden Infektionszahlen - und kritisieren die Politik.
Arzthelfer André Kirchner führt an diesem Morgen immer wieder dasselbe Gespräch. Ihm gegenüber, am Empfang einer HIV-Schwerpunktpraxis in Friedrichshain, steht ein Patient, der eigentlich gerade seine Medikamente abholen wollte. Er wird die Praxis mit leeren Händen wieder verlassen. "Es gibt kein PrEP derzeit", erklärt Kirchner, "wahrscheinlich wird es bis März oder April keine Tabletten geben. Ich mache dir trotzdem ein Rezept. Das gilt für einen Monat. Wenn du die irgendwo bekommst in Berlin, dann nutze sie ausnahmsweise on demand, nicht täglich, wie sonst."
"PrEP" – das steht für Prä-Expositions-Prophylaxe. Menschen mit erhöhtem Risiko für HIV nehmen das Medikament präventiv ein, um sich vor einer Infektion zu schützen. PrEP-Medikamente schützen dabei ähnlich gut wie Kondome. Seit 2019 haben Menschen mit erhöhtem Risiko einen gesetzlichen Anspruch auf ärztliche Beratung, Untersuchung und Arzneimittel zur Vorsorge – die Kosten übernehmen die Kassen. Für viele gehört PrEP seither zum Alltag, laut RKI nutzen es in Deutschland etwa 32.000 Menschen zur Vorsorge – rund ein Drittel davon in Berlin.
"Wir kommen hier gar nicht hinterher"
Praxen und Apotheken im ganzen Land melden, dass sie von Lieferengpässen betroffen seien – laut einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft ambulant tätiger HIV-Mediziner:innen (dägna) sind es ca. 90 Prozent aller HIV-Schwerpunktpraxen im Land. Etwa die Hälfte der Praxen würde deshalb nur noch kleinere Mengen an Patienten herausgeben. Ein Drittel gab an, dass PrEP-Nutzer die regelmäßige Einnahme unterbrechen müssten. Und auch HIV-positive Patienten sind betroffen – da das Medikament auch in der HIV-Behandlung angewendet werde, müssten teilweise auch laufende Therapien umgestellt werden.
"Das macht uns Riesen-Probleme", sagt Ingo Ochlast, Arzt in der Friedrichshainer Schwerpunktpraxis. "Wir haben hier in der Praxis an die 600 PrEP-User und jeden Tag an die 20, 30 Besuche von PrEP-Usern. Wir müssen denen gerade allen erklären, dass sie von heute auf morgen keinen Schutz mehr haben gegen HIV. Das ist ein riesiger Beratungsaufwand – wir kommen hier gar nicht hinterher. Und ich sehe einfach, dass die HIV-Infektionszahlen wieder hochgehen werden."
Mangellage mit Ansage
Ochlast ist wütend – immerhin sei die aktuelle Mangellage seit Monaten absehbar gewesen. "Überraschend kommt es nicht. Wir wurden über unsere Verbände schon im Oktober und November darauf aufmerksam gemacht. Auch das Bundesgesundheitsministerium wusste, dass da ein großer Mangel auf uns zukommt. Man hat aber nichts dagegen getan, dass das eintritt. Jetzt ist es eingetreten."
Tatsächlich haben dägna und die Arbeitsgemeinschaft HIV-kompetenter Apotheken (DAHKA) bereits im November Alarm geschlagen und auch das Ministerium informiert. Eine Reaktion sei jedoch nicht erfolgt, hieß es in einer entsprechenden Pressemitteilung: "Es wirkt so, als kümmere sich das BMG nicht um das Problem."
Größter Hersteller verweist auf problematische Marktpolitik
In Deutschland wird das einzige zugelassene Mittel zur HIV-Prophylaxe zum größten Teil von drei Herstellern geliefert, die insgesamt 71 Prozent des Marktes abdecken. Alle drei melden Engpässe. Eine Alternative zum fehlenden PrEP-Medikament gibt es nicht.
Das Arzneimittelunternehmen Teva, zu dem die Marke ratiopharm - und damit der größte Lieferant - gehört, sprach zunächst von Lieferengpässen bis mindestens Mitte März. Inzwischen hat es diese Prognose auf Mitte Februar nach vorne korrigiert. In einer Stellungnahme macht Teva für die Lieferschwierigkeiten vor allem die Rabattvertragpolitik in Deutschland verantwortlich.
Demnach gäbe es zwar zahlreiche Anbieter für das Präparat, jedoch würde nur der Hersteller mit dem günstigsten Preis den Zuschlag der Krankenkassen erhalten. "Bei einer solchen Marktkonzentration können kleine Störungen in der Wertschöpfungskette sehr schnell Engpässe nach sich ziehen", hieß es in der Stellungnahme, die dem rbb vorliegt. Störungen könnten demnach etwa durch Personalausfälle oder Lieferketten-Probleme entstehen.
Behörde prüft unter anderem Beschaffung im Ausland
Im Falle von Medikamenten-Engpässen wie diesen ist das Bundesgesundheitsministerium (BMG) der entscheidende Akteur. Es kann etwa einen sogenannten Versorgungsmangel feststellen, um die Einfuhr wichtiger Arzneimittel zu vereinfachen. Die Frage des rbb, ob und wann ein solcher Schritt geplant sei, ließ das Ministerium unbeantwortet.
Außerdem kann das - dem BMG unterstehende - Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) Maßnahmen ergreifen, um etwa Lieferkontingente bei den Herstellern zu vergrößern oder früher als geplant zur Verfügung zu stellen. Auf rbb-Anfrage teilte die Behörde mit, dass entsprechende Bemühungen stattfänden. "Demnach wird sich die Verfügbarkeit dieser Arzneimittel Anfang Februar leicht stabilisieren." Daneben kläre das BfArM, inwiefern überschüssige Kontingente im Ausland zur Verfügung stehen.
Bis es soweit ist, müssen Patienten darauf hoffen, noch irgendwo Rest-Medikamente zu bekommen oder sich anderweitig schützen. Für die Praxen bedeutet das einen ungemeinen Beratungsaufwand. HIV-Arzt Ingo Ochlast lässt das ernüchtert zurück. "Weil wir wieder diejenigen sind, die es ausbaden müssen."
Sendung: rbb24 Inforadio, 18.01.2024, 16:00