Jubiläum in Berlin - 100 Jahre S-Bahn: Nach dem Rauch kam der Gleichstrom

Do 01.08.24 | 17:43 Uhr | Von Frank Drescher
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Gedränge auf dem S-Bahnhof Schöneberg. Foto, anonym, 1948. /Pendler steigen am 07.01.2009 in Berlin am Bahnhof Ostkreuz aus einer S-Bahn. (Quelle: Picture Alliance/akg-images/Gero Breloer)
Bild: Picture Alliance/akg-images/Gero Breloer

Erst 40 Jahre nach Erfindung der Elektro-Lok begann die Bahn, sich in Berlin von der Dampflok zu verabschieden. Aus Anlass des 100. S-Bahn-Jubiläums zeigt das Deutsche Technikmuseum jetzt eine Original-S-Bahn von 1924. Von Frank Drescher

Kaum eine Minute ohne Zugverkehr am Bahnhof Alexanderplatz: S-Bahnen, Regionalzüge und ICEs rollen von früh bis spät auf vier Gleisen. Vor 100 Jahren war dort schon ähnlich viel Verkehr, allerdings langsamer, lauter - und wolkiger: Jeder Zug zog eine riesige Fahne aus Wasserdampf und Rauch hinter sich her und vernebelte die Umgebung. Unmengen Ruß wirbelten durch die Luft und schwärzten die Fassaden.

"Es war ein großes Argument, dass die Luftverschmutzung deutlich abnehmen würde durch die Elektrifizierung", sagt Peter Schwirkmann, Abteilungsleiter Sammlungen und Ausstellungen im Deutschen Technikmuseum, das anlässlich des 100-jährigen S-Bahn-Jubiläums drei Bahnwagen aus dieser Zeit in der Sonderschau "Besser, schneller, elektrisch. Die Anfänge der Berliner S-Bahn" präsentiert.

100 Jahre Berliner S-Bahn in Bildern

Berlin im 19. Jahrhundert – Boomtown dank Eisenbahn

Im frühen Industriezeitalter vervierfachte sich Berlins Bevölkerung, von rund 250.000 Einwohnern im Jahr 1830 auf mehr als eine Million 1877. Die Eisenbahn machte diese Entwicklung erst möglich: Zwischen 1838 und 1875 entstanden die wichtigsten Fernstrecken ab Berlin. Über sie konnte die Industrie ihre Waren schnell abtransportieren. Deren Arbeitskräftebedarf lockte massenhaft Landbewohner.

Doch das damalige Berlin umfasste nur wenig mehr als die heutigen Bezirke Mitte und Friedrichshain-Kreuzberg. Die berüchtigten Mietskasernen entstanden, die Wohnungsnot grassierte. Im damaligen Umland, also Orten wie Schöneberg, Lichtenberg oder Reinickendorf, war dagegen noch Platz. Um Arbeiter, die sich dort ansiedelten, zügig zu ihren Betrieben zu befördern, lag es nahe, das Bahnnetz weiterzuentwickeln. An den Fernstrecken entstanden zusätzliche Bahnhöfe in der näheren Umgebung Berlins. Viele erhielten zusätzliche Gleise für den Vorortverkehr, um die Fernzüge nicht auszubremsen.

Info

Anlässlich des 100. Jubiläums der Berliner S-Bahn veranstaltet die Senatskanzlei vom 8. bis 11. August ein viertägiges Festival. Auf dem Programm stehen Sonderfahrten mit historischen Zügen, Ausstellungen, Lesungen und Besichtigungen. Im Deutschen Technikmuseum können beispielsweise historische Fahrzeuge besichtigt werden.

Zur Anbindung von Nachbarstädten wie Charlottenburg und Vororten wie Rixdorf entstanden neu die Ringbahn 1877 und die Stadtbahn 1882. Die erfreuten sich großer Beliebtheit: Schon 1906 fuhren 170 Millionen Passagiere mit den Stadt-, Ring- und Vorortbahnen - ein Drittel des Beförderungsvolumens der Berliner S-Bahn von 2023.

Schon vor 100 Jahren: Modernisierungsstau bei der Bahn

Im Jahr 1924 sah die Bahn schon einmal ziemlich alt aus: Die Technologie der Dampfzüge war mehr als 100 Jahre alt. Dabei gab es seit der Erfindung der Elektro-Lok 45 Jahre zuvor schon längst etwas Neues, das sich außerdem seit über 30 Jahren bei der Straßenbahn und seit über 20 Jahren bei der U-Bahn bewährt hatte.

Die preußische Staatsbahn hingegen experimentierte ab 1900 mit Stromschienen und Oberleitungen. Erkenntnisse daraus bescherten zwar Hamburg eine elektrische Vorortbahn, aber in Berlin blieb es bis 1924 bei den Versuchen. Das lag nicht nur am Ersten Weltkrieg und der Zeit der Hyperinflation danach. "Das Eisenbahnnetz ist ja ungleich größer als ein kommunales Straßenbahnnetz", erklärt Peter Schwirkmann vom Deutschen Technikmuseum.

Hinzu kam: Die preußische Staatsbahn beschäftigte sich jahrelang mit technischen Grundsatzfragen: Gleichstrom oder Wechselstrom? Vorhandenes Wagenmaterial weiterverwenden oder komplett neue Züge bauen? Mit jeder Entscheidung waren Vorteile, Nachteile und Folgekosten verbunden. "Und dann musste man schließlich auch noch die Frage klären, auf welche Weise eigentlich angetrieben werden sollte: Mit einer elektrischen Lokomotive, mit einem Triebgestell, das man einfach nur unter vorhandene Wagen stellt und oder eben dann mit dem modernen Triebwagen-Steuerwagen-Beiwagen-Konzept", so Schwirkmann.

Der moderne Ansatz setzt sich durch

Die 1920 gegründete Reichsbahn entschied sich für das Konzept, das auf ihrem langlebigsten, von der preußischen Staatsbahn geerbten Versuchsbetrieb seit 1903 in der Erprobung war: Zwischen Groß-Lichterfelde-Ost und dem heute nicht mehr existierenden Potsdamer Bahnhof am Potsdamer Platz pendelten Züge mit Triebwagen, zwischen denen motorlose sogenannte "Beiwagen" gekuppelt waren. Gleichstrom aus einer Stromschiene setzte die Triebwagen in Bewegung. Dieses System ging weiterentwickelt am 8. August 1924 auf der Strecke Berlin - Stettiner Vorortbahnhof (später: Nordbahnhof) - Bernau in den regulären Betrieb.

Archivbild: S-Bahn Berlin in Richtung Westkreuz, DDR 50er-60er Jahre. (Quelle: dpa/MAZ)Berliner S-Bahn aus den 30er Jahren - das Foto wurde in den 1950er/60er Jahren gemacht.

Peter Schwirkmann vergleicht die Zeit bis zu dieser Entscheidung mit dem Mobiltelefon: "Wenn Sie schauen, wie lange es dauert, um den Stecker für das Handy-Ladegerät zu normieren, sind 25 Jahre auch eine stolze Zeit für eine relativ simple technische Aufgabe", sagt er.

Der Bedarf für ein schnelles Massenverkehrsmittel war gewaltig: Durch Eingemeindungen war Berlin seit 1920 mit 3,8 Millionen Einwohnern die drittgrößte Stadt der Welt. Eine "Elektrisierung", wie es damals hieß, versprach die schnellste Erschließung des großen Stadtgebietes: Denn die U-Bahn gab es fast nur in der Innenstadt, Straßenbahn und Bus waren für größere Distanzen zu langsam und die wenigen Autos waren für die meisten unerschwinglich. Die Bahn hingegen verlief bereits sternförmig von der Innenstadt aus in alle Richtungen. Und nachdem sich Elektro auch auf der Strecke nach Bernau bewährte, machte die Bahn richtig Tempo: In nur fünf Jahren setzte sie 230 Kilometer des Berliner Netzes bis ins Umland unter Strom. Seit 1930 vermarktet sie es als "S-Bahn" mit dem bis heute üblichen grünen Logo.

Nur anderthalb Wagen der Ur-S-Bahn existieren noch

Die erste Fahrzeugserie der Berliner S-Bahn, die sogenannte "Bauart Bernau", erwies sich schnell als überholt. Schon ab 1925 ließ die Bahn Nachfolgemodelle entwickeln. Eines davon, die Bauart "Stadtbahn", war gewissermaßen der VW Käfer unter den Schienenfahrzeugen. In großer Stückzahl gebaut und mit rund 70 Jahren Einsatzdauer besonders langlebig, prägten diese Züge für Jahrzehnte das Stadtbild und auch die Klangkulisse Berlins.

Neben einem Exemplar aus dieser Serie zeigt das Technikmuseum auch das, was von einem Bernauer Triebwagen noch übrig ist. "Das Fahrzeug wurde 1942 stillgelegt und stand in Schöneweide, wurde mutmaßlich dort in den 1950er Jahren als Schulungsraum, später als Werkstatt genutzt", erzählt Peter Schwirkmann. Weil er dort im Weg stand und für den Straßentransport auf ein anderes Bahngelände zu sperrig war, wurde er 1992 einfach halbiert. Einen sogenannten "Beiwagen" der Bauart Bernau, also ein Waggon ohne Motor und Steuerstand, restauriert das Technikmuseum derzeit noch.

Das Fragment des einzigen originalen S-Bahn-Triebwagens aus der ersten Fahrzeugserie von 1924, der Bauart „Bernau“. SDTB / Foto: Steffi HengsIm Lokschuppen: Das Fragment des einzigen originalen S-Bahn-Triebwagens aus der ersten Fahrzeugserie von 1924, der Bauart "Bernau". (SDTB / Foto: Steffi Hengs)

Sendung: rbb24 Abendschau, 08.08.2024, 19:30 Uhr

Beitrag von Frank Drescher

6 Kommentare

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  1. 6.

    Paris lebt und leidet darunter, dass die Banlieue, d. h. die Vororte, die zusammen mehr Einwohner aufbieten als die Stadt selbst, sie also nicht eingemeindet wurde. Das ist bis heute der Fall. Die Agglomeration Paris hat mehr als 7 MIll. Einwohner, Paris selber, was ja kaum größer ist als der Berliner S-Bahn-Ring, hat knapp die Hälfte davon.

    Jahrzehntelang wurde die Banlieue - auf Berlin übertragen: Spandau, Köpenick, Hohenschönhausen und Marzahn - links liegengelassen. Jetzt scheint es der französische Nationalstaat zu sein, der hier Umstände forciert. Allerdings sind die Verhältnisse in Berlin leicht anders: Mehr als zwei Millionen bekommen die Gebiete außerhalb des S-Bahn-Rings eben NICHT zusammen. Deshalb wäre auch eine Verlängerung von U-Bahnen nur beschränkt sinnvoll, eine Verlängerung und Wiedereinführung von Straßenbahnen dagegen sehr sinnvoll, um dieses brachliegende Potenzial aufzugreifen.

  2. 5.

    Die Verkehrswende in Berlin lebt auch heute noch davon, dass damals die Menschen über den eigenen Kiez hinaus gedacht haben und in Groß-Berliner Dimensionen geplant haben. Paris folgt mit 100 Jahren Verspätung.

  3. 4.

    ... und "Modernisierungsstau" trifft es ganz und gar nicht, denn die 1920er sind gerade die Zeit der großen Neuentwicklungen bei der Eisenbahn, ermöglicht übrigens gerade nicht durch eine Zersplitterung, wie sie heute wieder zu beobachten ist, weil jedes Land seine Züge 'bestellt' und ein Sammelsurium von Unternehmen anbietet, sondern weil es eine große deutschlandweit agierende Bahngesellschaft gab, eben die DRG.

  4. 3.

    Die Schande ist eigentlich,dass einige ehemalige Außenstellen der S Bahn ( z.B. Velten,Siemensbahn) trotz vollmundigen Ankündigung der Politik 1990 bis heute noch nicht wieder in Betrieb sind,von Erweiterungen,z.B. statt der EVO auf Bahngelände einmal ganz abgesehen.
    S Bahn feiert man mit großen Reden, natürlich mit Bild der anwesenden Politiker, über deren Bedeutung und Autobahnen baut der noch immer westlastig-autobahnaffine Senat,notfalls sogar zu Lasten der S-Bahn,siehe TVO.

  5. 2.

    Vielen Dank erstmal für die umfangreiche Darstellung. Wie so alles, so bietet natürlich auch die S-Bahn in Berlin Raum für Kuriositäten aller Art und so "glatt", wie es hinterher immer erscheint, war es für die seinerzeitigen Zeitgenossen bei weitem nicht. Schon zur Frühzeit der Eisenbahn wurde diese meistens nur bis an den äußersten Rand der Bebauung geführt, woraus dann die BahnhofsVORstädte erwuchsen; die erste U-Bahn in Berlin war die vor den südlichen Toren Berlins verlaufende Hochbahn, bis es dann mit etlichem zeitlichen Abstand in die wirklichen Zentren ging.

    Das Motto "Versuch und Irrtum" waltete schon damals und auch heute wird häufig genug alles Mögliche ins Feld geführt, um Veränderungen auf und mit Gleisen zu verhindern. Erlangen hat sich mehrheitlich für eine Einführung der Straßenbahn entschieden, Regensburg mehrheitlich leider nicht. Mit blanker Not ist nichts zu bewirken, mehr aber mit Schönheit und ansprechenden Anlagen. Dieses "Pfund" wird oft genug verspielt.

  6. 1.

    Etwas mehr von dem Zeitgeist der 1920siger würde man sich auch heute gerne wünschen und das nicht nur bei der S Bahn . Was wäre Berlin heute ohne die damaligen Bahnbrechenden Veränderungen wobei diese Entwicklungen bei der Berliner S Bahn ja nur eine Fortsetzung waren was bei Straßenbahn , U Bahn und in anderen Bereichen ja schon seit den 1890siger Jahren begonnen hat . Alles Gute zum 100. Geburtstag liebe Berliner S Bahn !!!!

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